Der Gang der Dinge

I

Kürzlich habe ich am Kiosk Kaugummis gekauft. Der Mann vor mir in der Schlange braucht ein wenig, bis er das Geld aus seinem Portemonnaie hervorgekramt hat. Ich warte also geduldig mit den Kaugummis in der Hand und schaue mich ein wenig um. Mein Blick fällt auf die Werbung für eine europäische Lotterie, deren Jackpot den Gewinn von 200 Millionen Franken verspricht - eine schier unvorstellbar grosse Summe Geld.
Das Gespräch zwischen dem Mann vor mir in der Schlange und der Kioskverkäuferin lässt mich begreifen, dass er dabei ist, einen Tip für die Lotterie abzugeben. Ich frage mich, ob er wohl gewinnen wird.

Die Wahrscheinlichkeit auf einen Hauptgewinn bei der erwähnten Lotteri ist verschwindend gering. Sie liegt bei etwa 1:140 Millionen. Aber natürlich ist es auch nicht ausgeschlossen, dass man gewinnt. Europaweit wird irgendwann irgendjemand tatsächlich das Glück haben, diese oder eine noch grössere Summe einzustreichen.
Lässt sich das Ergebnis einer solchen Ziehung eigentlich vorausberechnen? Natürlich nicht!

II

Tatsächlich nicht?
Eigentlich müsste es ja doch gehen. Denn könnte man alle möglichen Umstände und Wirkkräfte einer Kausalkette ansehen, dann könnte man sogar die Lottozahlen voraussagen. Was uns als Zufall erscheint, wäre dann bloss auf unsere Unfähigkeit zurückzuführen, die überkomplexen Zusammenhänge zu begreifen. Es gibt diese Zusammenhänge, sie sind für uns lediglich deshalb unberechenbar, weil zu viele Faktoren eine Rolle spielen: Die vielen Stösse der Kugeln untereinander, kleinste Unebenheiten auf ihrer Oberfläche, die Luftströmungsverhältnisse, in denen sie sich befinden und vieles mehr, führen dazu, dass uns die Ziehung der Lottozahlen als ein Zufall erscheint.

III

Aber eigentlich gibt es diesen Zufall nicht (wir lassen an dieser Stelle einmal die quantenmechanischen Feinheiten ausser Betracht), sondern auch das, was uns als Zufall erscheint, läuft nicht gesetzlos ab.
Und an dieser Stelle will ich Sie nun einmal dazu einladen, den Blick auszuweiten. Wenn man nämlich nicht nur eine einzelne und abgegrenzte Kausalkette in Betracht nimmt, sondern diese mit anderen verknüpft, wird das Bild natürlich noch komplizierter: Dann würde die Ziehung der Lottozahlen auch dadurch entschieden werden, in welche Lage die Kugeln ganz am Anfang durch den Menschen gebracht worden sind, der die Maschine das letzte mal gewartet hat. Dieser wiederum hatte bei der Reparatur ein wenig zittrige Hände, weil er in der Nacht zuvor schlecht geschlafen hat. Das wiederum hängt mit einer Party zusammen, die in seinem Nachbarhaus in derselben Nacht gefeiert worden ist usw.

IV

Wenn man diese Ausweitung des Blicks immer weiter fortsetzen würde, könnte man vermutlich alle Geschehnisse der Welt miteinander in Verbindung bringen. Alles hängt mit allem zusammen.
Und wenn man wie ein allwissender Gott auf die Welt schauen könnte, würde man all diese Zusammenhänge auch begreifen und könnte sie im Einzelnen auch voraussehen.
So oder so ähnlich hat es sich schon eine in der Antike sehr weit verbreitete und sehr populäre Denkrichtung zurechtgelegt: Die Stoa, aufgekommen um 300 vor Christus, hatte angenommen, dass es ein göttliches Weltgesetz gebe, das alle Dinge durchwaltet, auseinander hervorgehen lässt und miteinander verbindet. Marc Aurel konnte es im 2. Jahrhundert so auf den Punkt bringen: “Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten”.

V

Die Stoa hatte tatsächlich angenommen, der Gang der Welt würde durch ein göttliches Prinzip bestimmt, dessen Wirkungen wir lediglich zur Kenntnis nehmen können. Was geschieht, kann der Mensch nicht beeinflussen, er muss es in stoischer Ruhe ertragen und sich dem Gang der Welt also fügen.

Mit dem christlichen Welt- und Menschenbild deckt sich das einerseits, andererseits aber auch überhaupt nicht. Auch das Christentum kennt ja einen allmächtigen Gott, der den Gang der Welt bestimmt. Und auch für das Christentum ist der Wille Gottes nicht immer begreifbar. Martin Luther konnte deshalb von einem deus absconditus sprechen, von einer Seite in Gott und seinem Willen, die uns dunkel und uneinsehbar bleibt. Nur so konnte sich Luther das Übel und die Bösartigkeiten des Menschen erklären. Gott wirkt auch das, uns bleibt aber unbegreiflich warum er es tut.

VI

Aber - und das ist nun wirklich anders als in der Stoa: Die Aufgabe des Menschen wird im Christentum gerade nicht darauf reduziert, sich dem vermeintlich unveränderbaren Gang der Welt zu fügen. Sondern unser Gott hat uns dazu bestimmt, die Welt zu gestalten und unser Leben aktiv zu führen.
Und zwar gegen alle Widrigkeiten und trotz aller Unstimmigkeiten und aller Übel, die uns begegnen. Und auch gegen das Lebensfeindliche und das Böse, das uns ja auch immer wieder begegnet.

Wir sollen also den Kopf nicht in den Sand stecken, sondern erhobenen Hauptes das Leben aufnehmen und es gestalten. Dies ist für den christlichen Glauben unsere Bestimmung. Und Gott wird die Welt so durchwalten und lenken, dass dies auch gelingen wird.

Ein wunderbares Welt- und Menschenbild, wie ich finde!