rallentando vom 06.10.21
Thema: Sein zum Tode

 

27 Da wandte sich Petrus an ihn und sagte: Wir hier haben alles verlassen und sind dir gefolgt. Was wird mit uns werden?
28 Jesus sagte zu ihnen: ...
29 … jeder, der um meines Namens willen Häuser, Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird hundertfach empfangen und ewiges Leben erben.

So steht es im 19. Kapitel des Matthäusevangeliums. Und mit diesen wenigen Sätzen begrüsse ich Sie zu rallentando.
Heute geht es weiter mit der Frage, welche Bedeutung der Tod für unser Leben hat. bleiben Sie dran!

 

I

Wir Menschen haben ein “Sein zum Tode”. So hat es Martin Heidegger, einer der grossen Philosophen des letzten Jahrhunderts, einmal gesagt. Und er hat damit Folgendes gemeint: Unser Dasein endet unausweichlich mit dem Tod. Natürlich ist das eine Binsenwahrheit. Aber was Heidegger darüber hinaus sagen wollte ist dies: Auch wenn wir die Binsenwahrheit zumeist verdrängen, so wissen wir doch von ihr.
Wir werden eines Tages nicht mehr sein. Der Tod wartet auf uns. Und genau dieses Wissen wirft seinen Schatten voraus oder gewissermassen aus der Zukunft unseres Todes zurück in unsere Gegenwart.
Dass wir nicht ewig Zeit haben zwingt uns dazu, ständig Entscheidungen zu treffen. Und zwar die richtigen! Wir haben keine Zeit für Umwege, sondern wir müssen das, was wir wirklich aus unserem Leben machen wollen, tatsächlich jetzt besorgen. Sonst könnte es zu spät sein. Der Tod wartet schon und wird unsere Lebenszeit unweigerlich begrenzen.

II

Wenn man ganz genau hinschaut, entscheiden wir ständig darüber, wer wir sind. Bin ich derjenige Vater, der seinen Sohn auf den Fussballplatz begleitet oder derjenige, der die Zeit, die mein Sohn dort verbringt, nutzt um etwas anderes zu erledigen?
Bin ich derjenige, der seine Kollegen unterstützt oder ausnutzt? Bin ich diejenige Grossmutter, die ihre Enkelkinder zu einem Ausflug einlädt oder nicht? Und bin ich ihnen Gram, wenn sie mir absagen? Oder kann ich ihnen verzeihen?
Wir sollten auf alle diese Fragen und vor allem auf alle anderen, die ähnlich gelagert sind, eine Antwort haben. Und eigentlich sind es unendlich viele!
Ständig müssten wir diese Fragen beantworten und damit auch darüber entscheiden, wer wir sind.
Ja, es ist tatsächlich so: Mit den Entscheidungen die wir jeden Monat, jede Woche und jeden Tag treffen, entscheiden wir auch darüber, wer wir sind und wer wir sein werden. Jedenfalls für die Zeit, die uns bleibt, bis wir sterben.

III

Sünde ist ein grosses Wort. Wir benutzen es heute noch, aber kaum jemand mag es im Ernst auf sich selbst beziehen. Vielleicht ist man noch bereit, es im Scherz zu verwenden: Dann, wenn jemand von sich sagt, er habe gesündigt, wenn er ein Stück Torte zu viel gegessen hat.
Aber kaum jemand ist noch bereit im vollen Wortsinn von sich zu sagen, sie oder er sei ein Sünder.

Wir täuschen uns. Wir sollten wieder lernen von der Sünde zu reden und auch, sie auf uns selbst zu beziehen. Ich meine es nicht sauer-moralisch, das will ich beteuern. Nichts liegt mir ferner als mit dem Finger auf andere oder auf mich selbst zu zeigen und zu sagen: Siehst Du, Du isst zu viel Fleisch, fährst ein zu grosses Auto oder tust zu wenig für Deinen kranken Nachbarn.
Das mag vielleicht auch problematisch sein, vielleicht es es das auch nicht. Jedenfalls geht es mir nicht darum.

IV

Es geht um etwas anderes. Der Mensch ist in seinem Trott gefangen. In seinen Routinen, in den Vorgaben, die die Gesellschaft macht, in seiner Bequemlichkeit, in allem, was er von seinen Eltern ererbt hat und was er auf dem Boden seiner Heimat gelernt hat.
In unserem Predigttext aus dem Matthäusevangelium weist Jesus den Leser darauf hin, dass man für das ewige oder das echte Leben dies alles hinter sich lassen muss: Man muss wie er sagt “Häuser, Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker” hinter sich lassen.

V

Das ist so, weil dies alles uns daran hindert Entscheidungen zu treffen: Solche, die wir selbst fällen, solche durch die wir selbst bestimmen, wer wir sein wollen: Der Vater, der seinen Sohn auf den Fussballplatz begleitet oder der Vater, der die Abwesenheit seines Sohnes nutzt, um zu arbeiten. Die Arbeitskollegin, die sich bis zum Umfallen im Beruf einsetzt (und damit vielleicht sich selbst und ihrer Familie schadet) oder diejenige, die auf die Work-Life-Balance achtet (und so vielleicht ihren Kollegen schadet).
Die Beispiele zeigen ja schon an, dass die Entscheidungen, die wir treffen müssen, häufig mit Zielkonflikten überfrachtet sind. Aber wir müssen sie trotzdem treffen. Und wir legen damit nicht nur dies und das fest, sondern wir entscheiden damit auch darüber, wer wir selbst sind.

VI

Nur wer die Traditionen des Ackers verlassen hat, auf dem er aufgewachsen ist, nur wer die Traditionen seiner Familie hinter sich gelassen hat und nur wem es gelingt, die gesellschaftlichen Konventionen hinter sich zu lassen, wird überhaupt eine Entscheidung treffen können.
Man muss dazu natürlich nicht tatsächlich Vater und Mutter verlassen und man muss dazu sich auch nicht geographisch aus seinem Heimatort fortbewegen. Aber im Geist muss man frei werden von den Vorgaben. Vor allem von den Vorgaben dessen, was die Gesellschaft normalerweise einfordert.
Sonst fällt man ja eigentlich gar nicht selbst eine Entscheidung, sondern man bewegt sich dann nur in dem Feld der Vorgaben dessen, was man eben so macht.

VII

Jesus ruft die Leute in seine Nachfolge und sie trennen sich von allem, in was sie zuvor eingewoben waren. Der tiefere Sinn der Berufungsgeschichten liegt darin, dass sie dadurch frei geworden sind, selbst Entscheidungen zu treffen. Sie folgen demjenigen nach, der sie genau dazu aufgerufen hatte. Und genau dadurch gewinnen sie ihr eigenes Leben.

VIII

Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken formulieren. Natürlich kann es vorkommen, dass Entscheidungen, die wir ganz im Sinne des Evangeliums selbst treffen, sich mit den Vorgaben dessen, was man so macht, decken.
Am Beispiel: Ein Schüler entscheidet sich dazu nach dem nächsten Sommer, eine Kaufmännische Lehre absolvieren zu wollen. Das scheint ein kluger Entscheid zu sein, da die Lehre als gute Ausbildung gilt, da sie gute Karrierechancen eröffnet und weil man mit dieser Art von Lehre ein gutes Standing in der Gesellschaft hat.
Lässt der Schüler sich treiben von den Wünschen seiner Eltern? Von den Familientraditionen? Von den Vorgaben aus seinem Freundeskreis? Oder findet er mit dieser Entscheidung auch zu sich selbst?
Vielleicht ist letzteres der Fall. Dann könnte die Entscheidung selbst gefällt sein und würde sich zufällig mit den Anforderungen der Gesellschaft decken. Das Evangelium und auch Heidegger wären zufrieden.

IX

Vielleicht ist die Gretchenfrage tatsächlich diejenige, die durch Heidegger aufgerufen worden ist. Kann ich meine Entscheidung bejahen angesichts der Tatsache, dass ich ein Dasein zu Tode habe und meine Zeit endlich ist.
Bis zum Tod gibt es natürlich einen lebendigen Lauf des Lebens. Es geht darum, sich in diesem Lauf selbst zu gewinnen!
Amen