rallentando vom 25. Juli 2021
Gut und Böse

Es gibt ja moralische Gesetze, von denen fast alle Menschen sagen, dass sie unbestritten gelten: Du sollst nicht töten. Das scheint immer und überall auf der Welt richtig zu sein.
Wie kommt es dazu, dass die Menschheit sich in dieser und in ein paar anderen moralischen Fragen so einig ist, wie selten sonst?
Das soll das Thema für unser heutiges rallentando, von Mittwoch, 24. August, sein. Bleiben Sie dran!

Immanuel Kant, der grosse Denker aus Königsberg, hatte eine schöne These parat, mit der sich die ungeteilte Bejahung eines solchen Gesetzes - Du sollst nicht töten - durch die gesamte Menschheit sehr gut erklären lässt.

Kant war der Auffassung, dass unser moralischer Kompass durch die Vernunft geeicht wird. Unser Bewusstsein für das Gute und für das Böse, die Fähigkeit diese beiden überhaupt voneinander unterscheiden zu können, ist uns Menschen danach mit unserem Vernunftapparat gegeben.
Ein Tier verfügt über diese Fähigkeit in der Regel nicht. Von gut und böse weiss es schlicht nichts.

Nun hat Kant immer darauf gepocht, dass diese Vernunft, die uns bei unseren moralischen Entscheiden leitet (oder leiten sollte), “eine und allgemein” ist. Und das bedeutet: Jeder Erdenbürger, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, wird vernünftigerweise wissen, was er bei einer moralischen Entscheidung zu tun und zu lassen hat. Die Vernunft gibt es uns vor.

Diese These hat etwas Bestechendes, weil sie viel erklärt. Jedenfalls wird so verständlich, warum zum Beispiel über alle Kulturgrenzen und über alle Zeiträume hinweg dieses Gesetz gilt: Du sollst nicht töten! Natürlich gibt es immer wieder einmal Ausnahmen von der Regel. Kulturen oder Zeiten, in denen das Gebot unbeachtet bleibt. Aber dann, so muss man mit Kant argumentieren, sind die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes, noch nicht zur Vernunft gekommen oder von ihr abgefallen.

Kant hat seine Theorie der moralischen Vernunft Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlicht. Seither ist sie natürlich vielfach diskutiert und auch bestritten worden.
Die Kritiker haben immer gesagt, man könne an den vielen Kulturen und ihren unterschiedlichen Verhaltensweisen doch glasklar ablesen, dass es so etwas wie eine einheitliche Vernunft in moralischen Fragen nicht geben könne.

In Indien werden Kühe als heilig verehrt. Für einen Hinduisten dort ist es undenkbar, Rindfleisch zu sich zu nehmen. Für einen gewöhnlichen Europäer mit jüdisch-christlichem Kulturhintergrund ist das kein Problem.

Die Moral, das wäre die dazu passende These, ist weniger eine Sache einer allgemein menschlichen Vernunft, sondern wird durch die Traditionen, die Umstände und die Zeiten, in denen wir stehen, bestimmt. Sie verändert sich auch ständig. Und: Sie wird auch immer kleinräumiger, wie man an den spätmodernen Zeiten ablesen kann, in denen wir leben. Eine allgemeingültige Moral gibt es in vielen Dingen gar nicht mehr, sondern was als gut und schlecht gilt, wird ganz individuell ausgemacht: Die einen finden das verzehren von Fleisch moralisch in Ordnung, andere lehnen es aus ethischen Gründen ab, wieder andere essen vegan usw.

Es ist nicht ganz leicht zu entscheiden, wer Recht hat. Kant oder seine Kritiker. Das soll an dieser Stelle auch gar nicht letztgültig beantwortet werden.

Aber auf eines will ich doch zum Schluss noch aufmerksam machen: nämlich, dass der Glaube in jedem Fall eine unumgängliche Rolle spielt, wenn wir Antworten auf ethische Fragen suchen. Zwar bleibt das häufig unbemerkt, aber es ist doch so.
Wenn wir eine moralische Überzeugung gewonnen haben, müssen wir an ihre Richtigkeit glauben, sonst wird sie unser Leben nicht leiten können. Wir müssen, das, was die moralische Vernunft uns vorgibt, achten! So hat Kant es noch ausgedrückt.

Religionen haben das, was ich im Blick habe, stets anders formuliert: “Du sollst nicht töten”. So lautet das fünfte Gebot. Dass es richtig ist, es zu halten, wird gesichert dadurch, dass es mit dem Gottesglauben in Zusammenhang gebracht wird.
Kurz: Irgendeine Form des Fürwahrhaltens der moralischen Regeln muss jeder Mensch aufbringen. Sonst würde ja jede ethische Entscheidung sofort wieder in Frage gestellt werden müssen.

Die jüdisch-christliche Tradition hat das immer gewusst. Den 10 Geboten steht deshalb eine Selbstvorstellung Gottes voran: “Ich bin der Herr Dein Gott, Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.” Das bedeutet eben auch: Die dann folgenden 10 Gebote gelten unbedingt, sie sind gottgegeben und unumstösslich.

Gott ist Gott, und seine Gebote sind seine Gebote. Da gibt es nichts zu diskutieren. Gott sei Dank ist der Sinn der biblischen Ethik lebensdienlich und menschengerecht. Man kann schon daran glauben und gewinnt dann eine Ethik, die das menschliche Leben hoch schätzt. Was will man mehr?

Amen