rallentando vom 21. Juli 2021
Gott spielen?

Wir schreiben das Jahr 2055. Der Mensch spielt wieder einmal Gott und hat es dieses mal auf die Spitze getrieben. In speziellen Labors werden besonders geeigneten Kandidaten Chips implantiert, die die Denkfähigkeit erhöhen. Auf diese Weise sollen sie in die Lage versetzt werden, die zwei grössten Probleme Probleme der Menschheit zu durchdenken und eine Lösung für sie zu finden: Das immer noch drängende Klimaproblem und ein drohender Krieg in Südostasien.

Dass dieser Blick in die Zukunft vielleicht gar nicht so unrealistisch ist, soll heute unser Thema bei rallentando sein. Bleiben Sie dran.

Wir sind in ein neues Zeitalter eingetreten. Seit zwei oder drei Jahrzehnten ist absehbar, dass der Mensch in der Lage sein wird, sich selbst zu verändern und seine Fähigkeiten massiv auszuweiten. Schon heute gibt es dafür Beispiele genug: Hirndoping durch Medikamente, verbesserte Sinneswahrnehmung durch allerlei Instrumente, die so klein sind, dass sie kaum noch auffallen - verfeinerte Hör- und Sehgeräte gehören dazu. Sie werden nicht nur im militärischen Bereich eingesetzt, aber auch dort.
Wir können heute sehr leicht über das Handy eine solche Fülle von Informationen aufrufen, wie es vor 30 Jahren noch undenkbar war. Die Entwicklung der google-Brille hat gezeigt, dass sich die Informationsdichte umstandslos direkt vor unsere Augen spiegeln lässt.

Bis zu dem Versuch, das Gehirn direkt mit Mikrochips und Software zu koppeln, scheint es eigentlich gar nicht mehr so weit zu sein.
Alternativen lassen sich ebenfalls leicht ausmalen: Das Hirn könnte, wenn seine Funktionsweise erst einmal richtig verstanden ist, medikamentös verbessert werden oder vielleicht auch, wenn man zudem bei der Gentechnik entsprechend weit ist, schon vor der Geburt mit bestimmten Fähigkeiten, vielleicht sogar mit einer bestimmten Moral ausgestattet werden.

Für die einen sind solche Vorstellungen ein Schreckgespenst. Wenn die Geister erst einmal aus der Flasche gelassen sind, werden sie sich nicht mehr einfangen lassen. Sie werden sich verselbständigen, für Ungerechtigkeiten sorgen, weil man für die Leistungssteigerungen gewiss zahlen muss. Die einen können es sich leisten, die anderen nicht.
Es wird, so die Skeptiker, gewiss auch Missbrauch geben. Militärische oder kriminelle Interessen werden sich der neuen Möglichkeiten bemächtigen.
Und vor allem: Wenn es wirklich wahr werden sollte, dass wir in das Erbgut des Menschen derart gravierend eingreifen können, wird ein Grundgefühl, das zum Menschen ganz fundamental gehört, zum Verschwinden gebracht: Das Gefühl nämlich, dass man seine Existenz und seine biologischen Eigenschaften Gott verdankt oder einem reinen Zufall, wie die Atheisten sagen würden. Jedenfalls ist heute noch kein steuernder menschlicher Wille der letzte Grund für unser Dasein.
Ein Mensch aber, der sein ganzes Leben als das Produkt eines menschlichen Willens begreifen muss, ist nicht mehr gleich frei und unbeschwert, wie wir es heute sind.

Natürlich kann man auch anders auf die Dinge schauen. Man könnte zum Beispiel sagen, dass es immer schon zum Bestreben des Menschen gehörte, das Beste aus sich zu machen. Ich erinnere Sie an eine grosse Schrift von Gotthold Ephraim Lessing, die den Titel “Die Erziehung des Menschengeschlechts” trägt. Lessing hat sie 1780 veröffentlicht, und darin spiegelt sich der Optimismus ab, dass das Menschengeschlecht sich durch Bildungsprozesse langsam selbst an eine bessere Version seiner selbst annähert. Warum sollte man die technischen Möglichkeiten, die sich uns in den nächsten Jahrzehnten auftun werden, nicht als eine Fortsetzung dieses Ideals mit anderen Mitteln begreifen? So oder so ähnlich werden diejenigen argumentieren, die sich offen für die neuen Möglichkeiten zeigen.

Ganz gewiss werden auch die Befürworter darauf pochen, es müsse reguliert werden, von welchen Möglichkeiten man überhaupt Gebrauch machen wolle. Und sollte man sie anwenden wollen, müsste geklärt werden, zu welchen Zwecken man sie einsetzt. Das wird politische Debatten auslösen, einerseits. Andererseits aber auch die Frage aufwerfen, an welchen Idealen man sich denn orientieren soll, wenn man den Menschen oder das Menschengeschlecht - wie Lessing sagen würde - über die Generationen hinweg entwickeln wollte.

Es liegt nahe, dass man dabei auch an das Neue Testament denkt. Es entwirft das Ideal eines friedlichen Menschen und einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich in Liebe begegnen. Wenn man den Menschen schon zu irgendetwas Instand setzen will, dann doch wohl genau dazu. Das Neue Testament hatte übrigens auch schon im Sinn, dass der Mensch zu einer besseren Version seiner selbst aufbrechen sollte. Erst dadurch würde er zu dem werden, wie er eigentlich gedacht war. Ja es ist unsere Bestimmung, ein Ebenbild Gottes zu sein. Wir sind es aber noch nicht. Ob wir es durch technische Verbesserungen werden können, sei einmal dahingestellt.

Amen