rallentando vom 31. März 2021
Einen Apfel pflücken

I

Wer einen Apfel pflücken will, der sehr hoch am Baum hängt, wird ihn allein nicht erreichen. Erst wenn er mit anderen zusammenarbeitet, gelingt es, die Frucht zu ernten. Schon als Kind kann man lernen, dass man die Ziele weit oben nur erreichen kann, wenn man sich mit einem anderen zusammen tut und zum Beispiel eine Räuberleiter macht.
Das hat etwas mit dem Reich Gottes zu tun. Und darum soll es heute gehen.

II

Im Prinzip steckt in uns allen eine gesunde Portion Egoismus. Der Mensch ist ein Wesen, das seine Ziele verfolgt. Und bei vielen dieser Ziele sind die anderen um uns herum zunächst einmal lästige Konkurrenten.
Wer den verführerischen Apfel am Baum hängen sieht und Hunger hat, will ihn haben um ihn essen zu können. Allerdings ist uns klar, dass wir nicht die einzigen sind, die die rot in der Sonne schimmernde Frucht gern in Besitz nehmen würden.

Interessant wird es, wenn der Apfel so hoch hängt, dass ein Einzelner ihn nicht erreichen kann. Um an ihn heranzukommen, müssen wir dann einen Vertrag mit einem Zweiten schliessen. In der Regel wird der Vertrag so aussehen: Wir helfen einander, um die Frucht zu pflücken und teilen danach.

III

Nun lässt sich dieses Prinzip leicht auf die Gesellschaft insgesamt übertragen. Englische Aufklärungsphilosophen haben das im 17. Jahrhundert erstmals getan und unsere Gesellschaft als ein riesiges Geflecht der Zusammenarbeit beschrieben, auf das wir alle uns einlassen, weil wir uns Vorteile davon versprechen.
In gewisser Weise gehen wir einen Vertrag miteinander ein, durch den wir uns zur Zusammenarbeit verpflichten, weil wir uns Vorteile davon versprechen. Zwar hat dieser Vertrag nie als Schriftstück vorgelegen, und er ist deshalb auch nie von jemandem unterzeichnet worden.
Aber dem Geist nach haben wir uns doch alle darauf eingelassen, ganz einfach aus der Einsicht in die Vorteile, die uns dadurch entstehen. Denn allein könnten wir vieles von dem, was uns das Leben angenehm macht, keinesfalls erreichen: Unsere Versorgung mit Lebensmitteln, das Gesundheitssystem, das Bildungssystem, die Infrastruktur unseres Landes, den Lebensstandard im Allgemeinen etc.
Lassen Sie es es mich einmal pointiert mit den englischen Aufklärungsphilosophen sagen: Im Prinzip haben wir das alles erreicht, weil unser Egoismus dazu führt, dass wir uns auf die Zusammenarbeit mit anderen einlassen. Soweit einmal die Sicht dieser Denkrichtung, die uns seit dem 17. Jahrhundert umtreibt.

IV

Nun trachtet zuerst nach dem Himmelreich und seiner Gerechtigkeit. So heisst es im Neuen Testament. Der Reich-Gottes-Gedanke ist eines der Hauptmotive der Predigt Jesu.
Gemeint ist damit doch gewiss eine Gesellschaft, in der wir einander in Liebe begegnen und das Wohl des Nächsten im Blick haben.

Die entscheidende Frage ist nun, ob sich dieses Ziel durch den gerade beschriebenen Gesellschaftsvertrag erreichen lässt. Man kann das mit guten Gründen meinen. Es könnte sein, dass es am Ende allen besser geht, wenn wir uns auf eine Gesellschaft einlassen, in der alle ihre eigenen Interessen verfolgen. Denn dies zwingt uns dazu, mit anderen zusammenzuarbeiten und Verträge mit ihnen abzuschliessen, die am Ende allen nützen.

Vielleicht nähern wir uns auf diese Weise tatsächlich an das Reich Gottes an, in dem es allen wohl ergeht. Nur das Motiv unseres Handelns wäre dann nicht in erster Linie die Liebe zum Nächsten, sondern die Liebe zu uns selbst. Der grosse schottische Aufklärungsphilosoph Adam Smith hat das in einem eingängigen Doppelwort zusammengefasst: Private vices - public benefits. Die private Sünde des Egoismus führt zu einem ungeahnten Gemeinwohl. Annäherung an das Reich Gottes! Annäherung an das Reich Gottes?

V

Natürlich war das schon immer umstritten und ist es heute noch. Ist dies wirklich der effizienteste Weg, um dem Reich Gottes nahe zu kommen? Oder müsste dazu nicht doch das Prinzip der Liebe zum Nächsten direkter und umstandsloser unser Handeln leiten? So, dass wir nicht oder nicht nur auf uns schauen, sondern auch immer die Interessen der Nächsten proaktiv mitbedenken.
Selbstverständlich sind das berechtigte Fragen. Sie mahnen an, dass das Prinzip der Nächstenliebe irgendwie Platz finden muss in unseren Antrieben - einen Platz neben dem Prinzip des Eigennutzes.
Vermutlich ist es heute tatsächlich so, dass bei den meisten Menschen beide Prinzipien im Gewissen verankert sind.

VI

Und der politische Streit unserer Tage dreht sich häufig um die Frage, wie viel Gewicht das eine oder das andere Prinzip bei der Aushandlung der Verträge, der Gesetze, der Gestaltung des Sozialwesens, der Bildungspolitik, der Wirtschaftspolitik am Ende haben soll. Sie können ja einmal versuchen, das politische Alltagsgeschehen so zu entziffern. Ich vermute, man kommt damit relativ weit.

In jedem Fall aber - und das ist das erstaunliche - taugt der alte Begriff des Reiches Gottes heute noch, um zu begreifen, was da in Bern und in Brüssel und in Zürich und in den Gemeinden unserer Gesellschaft ausgehandelt wird. Denn wer wollte schon bestreiten, dass es bei der Aushandlung der Gesellschaftsverträge am Ende darum geht, dass allen Menschen - und nicht nur einigen - wohl ist? Dies ist das Erbe des Neuen Testaments: Uns ist gelegen an einer Gesellschaft, in der es allen gut geht, nicht nur wenigen.