Marcel Dupré ist einer der ganz grossen Orgelkomponisten des 20. Jahrhunderts. Es ist wahr, die Orgel lebt. Und es ist auch wahr, dass unsere Gegenwart grosse Orgelkompositionen hervorbringt. Solche, die die unsere Zeit abspiegeln, solche die hörbar machen, was unsere Zeit ausmacht.

In weniger als drei Minuten können Sie Christian Meldau Dupré spielen hören. Ich begrüsse Sie zu einer rallentando-Ausgabe vom 30. Dezember 2020, und wir stellen heute ein paar Überlegungen dazu an, ob alles relativ und Sache des subjektiven Geschmacks ist oder ob gewisse Dinge zeitlos gültig und vielleicht sogar wahr sind. In der Musik und in der Religion.

In Geschmackssachen scheint es keine absolute Wahrheit zu geben. Vielleicht hat es sie auf diesem Gebiet auch noch nie gegeben. Heute jedenfalls ist es so: Jeder x-beliebige Pop-Song kann für sich beanspruchen den gleichen ästhetischen Wert zu haben, wie Bachs Weihnachtsoratorium. Und wenn es nach der Beliebtheit geht, ist die Sache offenbar klar: Die Top 10 der Pop-Songs sind im letzten Monat weltweit sicher um ein vielfaches häufiger gehört worden als J.S. Bachs grosses Werk zu Weihnachten.

So ist es. Aber es gibt jedenfalls doch ein Indiz dafür, dass das Weihnachtsoratorium in seiner Qualität die derzeitigen Stars übertrifft. Bachs Werk ist 1734/35 erstmals aufgeführt worden. Das liegt über zweieinhalb Jahrhunderte zurück. Bach überdauert die Zeiten, er wird auch in den nächsten 250 Jahren noch gehört werden.
Ich wage zu behaupten, dass die Top-Ten-Interpreten von heute spätestens in 25 Jahren niemand mehr kennt. Das schmälert ihre Leistung nicht. Sie sprechen den Zeitgeist an. Aber sie sagen vermutlich nichts überzeitliches, nichts, das für längere Zeiten gelten wird.

Angesichts dieser Beobachtung wage ich eine weitere These: Von den vielen Religionen, die wir heute kennen, wird es das Christentum auch in den nächsten Jahrhunderten noch geben.
Andere Trends unter den Religionen werden kommen und gehen. Das Christentum wird bleiben, weil in ihm einige Wahrheiten über Gott und die Welt gespeichert sind, die es nirgends sonst zu hören gibt und die die Zeiten überdauern, zum Beispiel: Jeder Mensch ist ein Individuum, unvergleichlich besonders. Jeder Mensch wird in seiner Individualität hoch geschätzt, höher als jedes andere Ding. Das Christentum weiss, dass jeder Mensch im Verlauf seines Lebens Schuld auf sich lädt und damit umgehen muss. Es weiss, dass echte Schuld nur bewältigt werden kann, wenn sie vergeben wird. Und es kennt einen Gott, der sie vergibt. Es weiss, dass der Mensch nicht glücklich sein kann, wenn sein Leben keine Ziele kennt. Es weiss viel über uns Menschen, und deshalb wird es immer Menschen geben, die an den christlichen Gott glauben, der für uns deshalb auch Gott selbst ist.

Das Christentum also wird ganz gewiss überleben. In welcher Form auch immer. Mit der Musik ist es vielleicht ähnlich. Es gibt Musikstücke, die sind zeitlos wahr. Man muss sich nicht weit aus dem Fenster lehnen, wenn man die Musik Johann Sebastian Bachs dazu zählt.

Jetzt gleich werden Sie aber nichts von Bach hören, sondern etwas von Marcel Dupré. Christian Meldau spielt das Präludium eines Orgelwerks, das der französische Komponist 1912 veröffentlicht hat.
Es ist ein Abbild unserer modernen Zeit. Es gibt eine Beschleunigung der Tonfolgen, es lässt sich eine gewisse Zerrissenheit aus der Musik heraushören und der Versuch, den Dingen doch eine Einheit zu geben.

Vielleicht ist es einer der ganz grossen Versuche, eben dies zu sagen: Die Dinge sind relativ geworden, schnelllebig, und es ist schwierig, einen Konsens in unserer Kultur zu finden. Und erstaunlicherweise gibt es in dieser Musik zugleich doch etwas Überzeitliches, vielleicht etwas Ewiges zu hören. Ich würde darauf wetten, dass man dieses Stück auch in 250 Jahren noch spielt und hört.