Liebe Gemeinde

I

Matera liegt in Süditalien und war im Jahr 2019 die Kulturhauptstadt Europas. Es war ein Schweizer Regisseur, der aus diesem Anlass den Auftrag erhielt, einen Film über die Stadt zu drehen. Sein Name ist Milo Rau. Und dieser Milo Rau hat sich daran erinnert, dass in dieser Stadt schon einmal ein berühmt gewordener Film gedreht worden ist, der den Titel “Die Passion Christi” trägt. Also hat er das Thema aufgenommen und seinen Film “Das Neue Evangelium” genannt. Hauptdarsteller seines Films ein Afrikaner, der einst auf den Feldern im Süden des Landes Tomaten erntete. Auf diese Weise hat er dafür gesorgt, dass die Welt Dosentomaten kaufen kann. Pelati, wie sie in den Regalen unserer Supermärkte stehen und wie wir sie alltäglich brauchen.
In Süditalien werden diese Tomaten von Menschen aus Afrika geerntet. Sie haben keine Arbeitserlaubnis, und das bedeutet in ihrem Fall vor allem: Sie haben keine Rechte. Sie pflücken die Tomaten in brütender Hitze für ein paar Euro am Tag, sie müssen das Wasser, das sie auf den Feldern benötigen, selbst bezahlen, sie müssen auch den Bus, der sie zum Feld bringt, selbst bezahlen. Und sie leben auf der Strasse oder in Wellblechhütten abseits der Zivilisation. Es würde mich nicht wundern, wenn einige von Ihnen Abends mit den Worten von Psalm 22 beten: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen.

“Das Neue Evangelium” ist ein Film über diese Arbeiter. Es ist aber zugleich auch ein Film über eine Kulturhauptstadt Europas, und es ist ein Film, der bis an die Schmerzgrenze seiner Zuschauer geht.
Der Film zeigt die Realität. Sie findet in Süditalien statt. Zugleich auch in unseren Küchen, wenn wir eine Dose Pelati öffnen. Weihnachten ist vorüber. Hat sich etwas geändert in der Welt? Ist die Welt gerechter geworden? Oder bleibt alles, wie es immer schon war, weil es nichts Neues gibt unter der Sonne?

II

Zweites Beispiel: Ein bisschen etwas hat sich geändert in den letzten Monaten. Wir alle sind nachdenklicher geworden. Haben begriffen, dass vor den Lockdowns irgendetwas im Argen lag mit unserem Leben: zu viele Verpflichtungen, zu schnell, zu stressig, eine einzige Hatz war es über weite Strecken. Und es wollte einfach nicht aufhören. Nun sind wir runtergekommen und sagen uns gegenseitig: “Das ist das einzig Gute an Corona, dass es uns darüber nachdenken lässt, was uns wirklich wichtig ist und was wir in Zukunft gern anders machen würden”.
Gleichzeitig aber ist die Sehnsucht nach dem alten Leben sehr gross: Wir wünschen uns die Sommerferien in Amerika zurück, das Treffen mit Freunden im Restaurant und auch die Kollegen im Büro, die Dienstreisen nach London und Singapur.
Und ich vermute, dass es nicht mehr allzu lange dauert, bis es so auch kommt. Sind das gute Aussichten?

III

Natürlich sind es gute Aussichten - einerseits. Aber eines scheint mir ganz klar zu sein: Wenn das normale Leben zurückkommt, dann kommt zugleich auch der übliche Stress wieder zurück: Den Takt gibt unser Optimierungsbewusstsein vor. Wir wollen mehr erreichen in kürzerer Zeit: Das ist in der Wirtschaft so. Deshalb werden unsere Gesellschaften immer produktiver. Zum Glück. Aber uns als Teilnehmern des Wirtschaftslebens wird auch immer mehr abgefordert. Die Konkurrenz schläft nicht. Wir müssen schneller sein als sie und mehr arbeiten. Wir werden immer produktiver. Das gilt auch in unserem Privatleben. In den Sportvereinen wird nicht mehr wie vor 40 Jahren noch, ein wenig Bewegung nur aus Spass betrieben: Nein, heute geht es um Vollgas, um Ehrgeiz, um Optimierung.
Selten nur noch treffen wir einfach Freunde um der Freundschaft willen. Apéros in Galerien und Grillfeste bei Bekannten sind heute zumindest auch eine Kontaktplattform. Man knüpft Beziehungen, die einem irgendwann vielleicht noch einmal nützlich sein werden.
Ist das gut oder schlecht? Ich weiss es nicht. So sind einfach unsere Zeiten.

IV

Ja, so funktioniert die Moderne. Sie produziert Knechte auf Tomatenfeldern in Süditalien. Und sie produziert Knechte auch an der Goldküste und andernorts. Solche, die sich dem Produktivitätsdruck unterwerfen. Sie erzeugt auch immer zugleich Herren: Solche die von den Knechten profitieren.
Aber in der der Moderne ist es eben so, dass die Rollen nicht eindeutig verteilt sind: Mal sind wir die Herren - wenn wir im Coop in das Regal greifen und Dosentomaten für 1.25 Franken herausfischen.
Mal sind wir Knechte: Wenn Freundschaften nicht einfach Freundschaften sein können, weil wir immer auch auf unser Netzwerk achten müssen. Ganz sicher sind die Arbeiter in Süditalien Knechte, weil sie unter menschenunwürdigen Verhältnissen Tomaten für uns ernten. Aber vielleicht ist es doch so, dass auch sie manchmal in die Rolle eines Herren schlüpfen - dann, wenn sie von den wenigen Euros, die sie verdienen doch noch ein paar in ihre Heimat überweisen und auf diese Weise auch eine besondere Wertschätzung in ihren Familien erfahren. Zugleich sind sie natürlich auch die Knechte dieser Familien und ihrer Erwartungen.
Auch wenn die Verhältnisse zwischen diesen Menschen auf den Feldern Süditaliens und uns so unterschiedlich sind, wie sie nur sein können, stimmt es auf eine eigentümliche Weise doch: Wir alle sind wir in diesen Zeiten, die wir Moderne nennen, Herr und Knecht zugleich. Diejenigen auf den Feldern Süditaliens und diejenigen in den Wirtschaftszentren der Welt auch.

V

Das vielleicht meistgespielte Theaterstück des 20. Jahrhunderts ist Samuel Becketts “Warten auf Godot”. Mit diesem Stück hat Beckett, der 1969 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden ist, Weltruhm erlangt: Zwei Landstreicher, zwei Aussenseiter also, haben einen klaren Blick auf die Gesellschaft. Sie beobachten, was vor sich geht, und sie warten. Sie warten auf Godot.
Man muss wissen, dass Beckett irischer Abstammung ist und das Stück Ende der 40er Jahre in Frankreich auf Französisch geschrieben hat, um zu erahnen, auf wen die beiden Landstreicher warten. Godot ist Gott. Es steckt das englische God in dem Namen und die französische -ot-Endung, die den Dingen einen verkleinernden Charakter gibt. Godot ist also ein kleiner Gott. Vielleicht der Sohn Gottes, von dem es ja an Weihnachten heisst, dass Gott in ihm selbst auf Erden war.
Jedenfalls treten in dem Stück neben den beiden Landstreichern auch ein Herr (Pozzo) und ein Knecht (Lucky) auf. Sie sind über eine Leine aneinander gebunden. Der Herr geht brutal mit seinem Knecht, er beutet ihn aus, lässt ihn nie ausruhen und hat nichts als Geringschätzung für ihn über. Er redet ihn nur als Schwein an. Die Szene, in der die beiden auf der Bühne sind, geht ebenfalls an die Schmerzgrenze des Zuschauers. Ähnlich vielleicht wie der Film von Milo Rau.

VI

Wir sind dieser Herr und dieser Knecht zugleich. Jeder Mensch in der Moderne. Wir beuten andere aus: Die Tomatenpflücker in Italien, diejenigen Hände, die in Bangladesch unsere Kleider zusammen nähen und diejenigen, die unsere Handys zusammenkleben.

Und wir werden zugleich auch selbst ausgebeutet, wenn auch auf ganz andere Weise als die erbarmungswürdigen Menschen in Süditalien: Unsere Freundschaften sind nicht mehr einfach Freundschaften. Freizeit nicht mehr einfach Freizeit. Spätestens wenn der Impfstoff das Virus vertrieben hat, werden wir wieder in dem alten Hamsterrad sein. Und wir werden uns daraus nicht befreien können. Wir werden übrigens auch - wider besseres Wissen und mit schlechten Gewissen - mit Flugzeugen in die Ferien reisen, zu viel Auto fahren, zu wenig Zeit für die Gesundheit und für die Göttikinder aufbringen und wir werden konsumieren wie nie zuvor, obwohl wir wissen, dass es schlecht für das Klima und eigentlich auch schlecht für den Haushalt unserer Seele ist.

VI

In Becketts Stück werden die Protagonisten nicht erlöst. Sie warten auf den kleinen Gott, warten auf ein Wunder, warten darauf, dass sich etwas ändern könnte. Aber Godot kommt nicht. Die Moderne Welt in ihrem ganzen Irrsinn, in ihrer Unübersichtlichkeit und mit ihren dauernden Krisen läuft einfach weiter ab. Niemand wird das Rad aufhalten.
Der vielleicht berühmtesten Satz aus Becketts Stück ist der Eingangssatz, der erste Satz also, der auf der Bühne gesprochen wird. Und durch das Stück hindurch taucht er immer wieder auf. Er lautet: “Nichts zu machen”. Es gibt keinen Ausweg aus der Moderne.

VII

Es gibt ja unterschiedliche Strategien des Umgangs damit: Eine wäre, sich ins Vergessen zu verlieren: Weil man keine Wahl hat und weil alle mitmachen, macht man selbst auch mit. Ab und an gibt es Erlösung von dem Stress, von dem schlechten Gewissen auch: Dann, wenn wir in die Ferien gehen oder wenn wir Weihnachten feiern auch. Die Probleme der Welt und unsere eigenen Probleme, unsere schlechten Gewissen und schlechten Träumen werden dann ausgeblendet.

Eine andere Strategie wäre, verrückt zu werden.

Eine weitere wäre, doch irgendwie auf echte Erlösung zu hoffen. Das hat die Menschheit eigentlich schon immer getan. Damit eine solche Hoffnung aber nicht im Keim erstickt wird, müsste sich doch etwas tun.
Es müsste sich etwas tun in Süditalien auf den Feldern der Tomatenpflücker. Vielleicht ist das ja sogar der Fall. Der Hauptdarsteller aus dem Film von Milo Rau ist inzwischen politisch tätig, um die Bedingungen der Arbeiter zu verbessern. Möglicherweise hat er einen langen Weg vor sich, aber aussichtslos ist es nicht, was er tut. Allerdings werden er und die Leute an seiner Seite einen langen Atem brauchen.

Es müsste auch bei uns sich etwas verändern. Vielleicht ist das ja sogar der Fall. Vielleicht hat sich im zurückliegenden Jahr ja doch etwas in unserem Bewusstsein verändert, und es gelingt uns besser, die wichtigen von den unwichtigen Dingen zu trennen, wenn der Alltag mit der kommenden Impfung wieder losgeht.
Vielleicht gelingt es uns auch, unsere Klimaprobleme in den Griff zu bekommen. Auch dazu braucht es einen langen Atem.

VIII

Die Hoffnung darauf, dass es uns gelingen wird, die Ungerechtigkeiten, die Irrsinnigkeiten und die Zwänge unseres Lebens in den Griff zu bekommen, ist berechtigt. Dass ich dies sage, hat nun doch mit Weihnachten zu tun.
Denn an der ersten Weihnacht ist Gott Mensch geworden, hat sich gezeigt, dass Gott mit der Geschichte zu tun hat, hat sich gezeigt, dass Gott selbst ein Teil der Welt ist und umgekehrt die Welt ein Teil Gottes. Gott ist der Welt gegenwärtig, wie die Melodien der alten Kirchenchoräle in Bachs Bearbeitungen als Oberton immer gegenwärtig sind.
Und das bedeutet: Diese Welt wird trotz aller Irrsinnigkeiten und Ungerechtigkeiten nicht untergehen. Und es ist auch nicht angemessen, an ihr irre oder verrückt zu werden.
Weihnachten ist der Grund dafür, zuversichtlich in die Zukunft schauen zu können. Wenn man so will, sind Weihnachten und das grossartige Stück von Samuel Becket Gegenthesen. Man kann so auf die Welt schauen, dass in ihr keine Erlösung möglich ist. Man kann aber auch so auf sie schauen, dass Erlösung doch möglich ist - gegen allen Augenschein. So, wie es an Weihnachten im Jahre Null schon einmal war. Nirgends ist diese Hoffnung besser ausgedrückt als in den biblischen Schriften. Und so will ich Ihnen den Predigttext für diesen Gottesdienst ganz zum Schluss lesen. Er steht geschrieben im Deuteronomium im vierten Kapitel:

IX

30 Wenn du in Not bist und dich all dies trifft in ferner Zukunft, dann wirst du zurückkehren zum Herrn, deinem Gott, und auf seine Stimme hören, 31 denn der Herr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott: Er wird dich nicht verlassen und nicht verderben, und er wird den Bund mit deinen Vorfahren nicht vergessen, den er ihnen geschworen hat.

Amen