Schuld und Sühne
Sorj Chalandon: Am Tag davor (Original: Le jour d’avant 2017)

Herzlich willkommen zu rallentando vom 02. Dezember. Ich möchte Ihnen in drei bis vier Minuten gern ein Buch des französischen Schriftstellers Sorj Chalandon vorstellen, das 2017 erschienen ist, das ganz wunderbar geschrieben ist und das sich um eines der ganz grossen Themen unserer Kultur und des Christentums dreht: Wie gehen wir mit unserer Schuld um?

Das Buch trägt den Titel: Am Tag davor (im französischen Original: Le jour d’avant). Es versetzt uns in die 70er Jahre und in den Norden Frankreichs – in die Region um Liévin. Dort schlägt das Herz der französischen Kohleindustrie. Wir werden in das Milieu der Bergbaufamilien versetzt. Michel, damals ein 16jähriger Jugendlicher, ist der Protagonist des Romans. In einer von Gefühlen überbordenden Nacht fährt er mit seinem älteren Bruder Jospeh auf einem Mofa durch seine Heimatstadt. Zwischen den beiden gibt es ein geschwisterliches Band und noch viel mehr. Joseph ist für Michel ein Vorbild. Insgesamt verkörpert er den Stolz und das Ehrgefühl der Bergleute und das Lebensgefühl der Region.

Am nächsten Tag fährt Joseph in den Stollen ein und kommt dort beim grossen Grubenunglück von 1974 ums Leben. Für Michel bricht die Welt zusammen. Er kann nicht bleiben, wo er ist, verlässt seine Heimat. In Paris führt er ein anderes Leben, hat eine schöne Frau und fährt selbst Lastkraftwagen.

Allerdings stirbt seine Frau früh, und dieses Ereignis bringt Michel dazu, sich seiner Vergangenheit zu widmen. Er geht der Geschichte des Grubenunglücks nach und erkundet dabei zugleich sich selbst. Dabei wird einerseits klar, dass er selbst nicht unschuldig am Tod seines Bruders ist. Vor allem aber lädt er neue Schuld auf sich, weil er Rache an einem Vorarbeiter nimmt, der damals für die Sicherheit in dem Stollen zuständig war, in dem sein Bruder ums Leben kam.

Es kommt zu einem Prozess. Michel wird wegen seines Rachefeldzugs vor Gericht gestellt. Die Ereignisse um diesen Prozess nehmen einen Grossteil des Buchs ein und sind brillante Literatur, weil alle Spielarten des Umgangs mit der Schuld durchgespielt werden.
Schuldig sind Michel und auch der Vorarbeiter, der es damals nicht geschafft hat, für die Sicherheit im Stollen zu sorgen.

Beide erscheinen vor Gericht und sind in ein Spiel von Anklage und Versöhnung verstrickt. In den Umgang der modernen Justiz mit der Schuld auch – in die Frage, inwiefern mildernde Umstände Verantwortung von einem Menschen nehmen können. In die Frage auch, inwiefern sich jemand solche mildernden Umstände zurechnen kann.

In die Frage auch, ob es Erlösung von der Schuld geben kann. Es macht die Grösse des Romans aus, dass er eine Antwort darauf findet. Sie liegt in der Vergebung durch andere. Niemand kann mit seiner Schuld fertig werden, wenn sie ihm nicht vergeben wird.

Das ist eine der ganz grossen und für die Menschheit bis auf den heutigen Tag bedeutsamen Einsichten des Neuen Testaments: Wo es echte Schuld gibt – und es gibt sie in jedem Leben, kann es keine Erlösung von ihr geben, wenn sie nicht vergeben wird. Und genau dies kommt in einem Roman aus dem Jahr 2017 erneut zur Sprache. Ich empfehle Ihnen Sorj Chalandon: Am Tag davor.