Kunst oder Religion?

I

Heute ist der 28. Mai 2020, und ich heisse Sie willkommen zu einer rallentando-Ausgabe, in der es um das Verhältnis von Kunst und Religion gehen soll.

Um es etwas genauer zu sagen, geht es mir um zwei Stücke Musik, die uns von Toni Saigi und Felix Rossi vom Felix Rossi-Quartett aus Barcelona zugespielt worden sind. Sie haben zwei Jazz-Songs für uns aufgenommen, die im Stil des Cool-Jazz aufgenommen sind. Die Stücke klingen ein wenig nach Miles Davies und nach John Coltrane, von dem sie das berühmte Stück Stardust auch tatsächlich für uns aufgenommen haben.

II

Bevor wir uns der Musik selbst annähern, müssen wir aber einen kleinen gedanklichen Umweg machen: Die Kunst und die Religion sind ja seit Menschengedenken aufeinander bezogen gewesen. Lange, so hat man immer gesagt, hat die Kunst im Dienst der Religion gestanden. Das war eigentlich nichts Besonderes. Das gesamte Mittelalter hindurch zum Beispiel waren ja alle möglichen Tätigkeiten im Dienst der Religion. Die Politik der Herrscher, die Wirtschaft, die Wissenschaften, das gesamte menschliche Treiben wurden letztlich so verstanden, dass man damit Gott diene – und das bedeutet vor allem: Seinen Willen auf Erden umsetzt.
Die Kunst, die bildende Kunst und auch die Musik , machten dabei keine Ausnahme. In gewisser Weise waren sie den Zielen der Kirche und dem Gottesdienst im weitesten Sinn verpflichtet.

III

Mit der Ablösung des Mittelalters durch die Neuzeit änderte sich das: Der Staat, die Wirtschaft, alle möglichen anderen Tätigkeitsbereiche des menschlichen Lebens befreiten sich aus der Umklammerung der kirchlichen Vorgaben. Ja, es ist das Kennzeichen unserer Moderne, dass dies alles nun voneinander unabhängig funktioniert. So auch die Kunst.

IV

Was also ist das Wesen der Kunst, die nun seit langer Zeit schon befreit und auf sich selbst gestellt funktioniert? Wer eine Definition versucht, handelt sich mit Sicherheit Ärger ein, weil die Sache umstritten ist, und weil das Feld so gross ist, dass man es kaum überblicken kann. Jedenfalls trifft das auf mich zu...

Um solchen Ärger aus dem Weg zu gehen, verzichte ich lieber auf eine Definition dessen, was Kunst ist und backe kleinere Brötchen.
Ich will also lediglich versuchen, mich auf zwei Merkmale zu konzentrieren, die Kunst in der Moderne auszeichnen kann. Es soll also nicht einmal behauptet werden, dass sich jedes Kunstwerk durch diese Merkmale auszeichnet, sondern nur, dass einige sich dadurch auszeichnen. Und ich will nicht verhehlen, dass ich denke, dass gute Kunst sich durch diese beiden Merkmale auszeichnet. Aber das ist vielleicht schon zu viel gesagt.

V

Zum ersten Merkmal: Der Genuss von Kunst kann unseren Alltag unterbrechen. Oder anders gesagt: Das Kunstwerk legt es in einem solchen Falls darauf an, dass der Betrachter eines Bildes zum Beispiel oder der Hörer von Musik aus dem Strom der Alltagserlebnisse herausgerissen wird. Oder noch anders gesagt: Wer ein Kunstwerk erlebt, wird von der Kunst in Bann gezogen, so dass das Bewusstsein durch das Kunstwerk vereinnahmt wird. Im Idealfall vergisst man dann die Welt um sich herum, die Geschäfte, in die man sonst verwickelt ist. Die Sorgen, die Umtriebigkeiten des Alltags rücken durch den Kunstgenuss gewissermassen in den Hintergrund, und das Kunstwerk rückt in den Vordergrund der Aufmerksamkeit.

VI

Spielen wir es am Beispiel von Musik durch: Ein Musikstück ist dann ein solches Kunstwerk, wie ich es meine, wenn man im Autoradio etwas hört und plötzlich aufmerkt. Die Musik plätschert dann nicht dahin und begleitet den Alltag im Sinne eines blossen Hintergrundrauschens. Sondern sie zieht einen in Bann. Man merkt dann, dass nun etwas Besonderes geschieht. Es kann dabei auch die Stimmung gehoben werden oder in Trauer umkippen. Es ist noch vieles mehr denkbar. Aber Musik, die ich meine, ist jedenfalls etwas anderes als das, was mich zuvor beschäftigt hat. Sie führt mich über meinen Alltag hinaus.

VII

Natürlich kann das von ganz unterschiedlicher Musik geleistet werden. Es kommt auch auf meine Stimmung und meine Vorlieben an. Die einen werden durch Pop-, andere durch klassische Musik am ehesten auf diese Weise angesprochen. Insofern stimmt es schon, dass das Erlebnis von Kunst auch immer Geschmackssache ist und bleibt.

Aber es gibt wohl schon solche Musik, die es allein durch die Art, wie sie komponiert ist, darauf anlegt, ein solches Unterbrechungserlebnis zu erzeugen. Und nun meine ich, dass die beiden Stücke des Felix Rossi-Quartetts, die ich gerade schon erwähnt habe, tatsächlich so gehört werden können.
Wie gesagt: Vom Stil her sind sie wohl am ehesten dem Cool-Jazz zuzuordnen. Das ist ja eine Weiterentwicklung des ihm vorauslaufenden Bebop-Jazz, den Geschwindigkeit, ja man kann sagen: eine gewisse Hektik, auszeichnete.
Der Cool-Jazz nimmt sodann Tempo aus der Musik, wird melodiöser und ruhiger. Die Musik schwebt zuweilen, und der Geist des Hörers schwebt auch. Die Trompete erreicht zuweilen Höhen, die den Geist von den Wirrungen des Irdischen abheben. Wer diese Art von Musik hört, wird entschleunigt und in eine andere Welt überführt.

Ich glaube also tatsächlich, dass der Erfolg des Cool-Jazz auch auf seiner Fähigkeit zur Unterbrechung der Hektik und der Anspannung des Alltags liegt.

Vielleicht hören Sie das auch: Toni Saigi und Felix Rossi mit einem selbstkomponierten Stück, das den Titel Moonstone trägt...

VIII

Kunst kann nicht nur den Alltag unterbrechen, sondern sie kann zudem den Geist dazu bringen, über sich selbst und über die Situation, in der wir stecken, nachzudenken. Das ist das zweite mögliche Merkmal von Kunst.

Die Anfänge des Cool-Jazz liegen Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Der neue Musikstil wird an der amerikanischen Ostküste geboren, breitet sich dann aber schnell aus und erobert auch den Jazz-Stil der Westküste.
1950 tritt Amerika in den Koreakrieg ein, der kalte Krieg setzt ein und beginnt die Gemüter zu bedrücken. Die McCarthy-Ära ist geprägt von gereiztem Antikommunismus, von Denunziation und Verschwörungstheorien.
Kurz: Es gibt ein gewisses Unbehagen an der Kultur. Und dann kommt diese Musik, die den Geist aussteigen lässt aus all dem Ärger und der Angst und der Hektik des Alltags.

Vielleicht ist es für die Hörer von damals auch eine Musik der Besinnung gewesen. Vielleicht hat sie dazu angeregt, über die Verhältnisse, in denen das Land und die Menschen waren, nachzudenken. Übrigens ist der Stress, dem die Menschen der damaligen Zeit ausgesetzt waren, in gewisser Weise typisch für die Moderne, und er ist ja auch nie wieder grundsätzlich verschwunden. Zwar gibt es keinen kalten Krieg und auch keinen heissen Koreakonflikt und auch keinen McCarthy mehr. Aber das Unbehagen an der Kultur ist doch immer noch da. Die Probleme heissen heute anders: Klimakatastrophe, Corona-Virus, Wirtschaftskrieg und Wirtschaftskrise, Krise des Westens, Krise der Demokratie usw.

XI

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle gern einen kurzen Abschnitt aus dem 4. Kapitel des Matthäusevangelium vorlesen, der sich um die Berufung der ersten Jünger Jesu dreht:

18 Als Jesus den See von Galiläa entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus heisst, und seinen Bruder Andreas, wie sie die Netze auswarfen in den See; sie waren nämlich Fischer. 
19 Und er sagt zu ihnen: Kommt, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. 
20 Und sie liessen auf der Stelle die Netze liegen und folgten ihm. 
21 Und er ging von dort weiter und sah zwei andere Brüder: Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes, die mit ihrem Vater Zebedäus im Boot ihre Netze herrichteten; und er rief sie. 
22 Und sie liessen auf der Stelle das Boot und ihren Vater zurück und folgten ihm.

Kunst kann den Alltag unterbrechen und sie kann zugleich dazu anregen, über das eigene Leben und seine Lage nachzudenken.
Religion, das scheint mir die Grundaussage unserer Stelle aus dem Matthäusevangeliums zu sein, unterbricht auch den Alltag: Die Fischer lassen alles stehen und liegen: Netze, Boote, ihre Arbeit. Sie müssen für das, was sie suchen, also aussteigen aus dem Getriebe, das sie sonst in Beschlag nimmt.
Was aber suchen sie? Sie suchen eine Offenbarung – über ihr Leben. Und sie glauben sie bei Jesus, dem sie nun nachfolgen, finden zu können. Sie suchen einen Einblick in den Sinn des menschlichen Daseins. Sie suchen Heilung von einer Blindheit, mit der die Gemüter geschlagen sind. Und sie finden all das nicht im Rauschen des Alltags, sondern abseits davon.

XII

Wenn ich schon keine Definition zum Wesen der Kunst abgegeben habe, so will ich doch versuchen eine kleine Definition von Religion abzugeben: Religion ist Unterbrechung des Alltags und Lebensdeutung im Angesicht des Unendlichen.

Die Jünger Jesu stehen beispielhaft dafür: Sie lassen den Alltag hinter sich und beginnen, ihr Leben zu begreifen. Sie begreifen es vor allem so, dass es sein Dasein und seinen Sinn von Gott her hat, der ihnen an Jesus von Nazareth aufscheint.

XIII

Wenn das stimmt, dann weisen die Kunst und die Religion einige Ähnlichkeiten auf. Beide überheben das Gemüt über den Alltag. Und in beiden geht es darum, etwas über sich selbst und die Welt zu verstehen, was im Rauschen des Alltags nicht verstanden werden kann. Jedenfalls geht es in der christlichen Religion darum. In der Kunst kann es – so meine ich – auch darum gehen.
In der christlichen Religion gibt es die Auffassung, dass man sein Leben und das Leben überhaupt, nicht verstehen kann, wenn es nicht von Gott her verstanden wird. Das kann in der Kunst vielleicht auch so sein, muss es aber gewiss nicht.

XIV

Religion und Kunst können also, weil sie ähnliche Wirkungen auf das Gemüt des Menschen haben, als Konkurrenten begriffen werden. Aber sie können andererseits auch in ein Gespräch miteinander gebracht werden, wie es ja häufig auch geschieht. Ein Wechselgespräch zwischen Religion und Kunst muss das aber sein, bei dem man die Eigenständigkeit des jeweils anderen achtet. Denn es will ja niemand zurück ins Mittelalter. Die Kunst ist heute zum Glück vielmehr die Kunst, und die Religion die Religion.

Amen
Zum Abschluss noch einmal Toni Saigi und Felix Rossi mit Sturdust von John Coltrane.