Masken machen Menschen

Musik: Martina Joos (Blockflöte), Soma Salat-Zakariás (Viola da Gamba) und Lorenzo Abate (Theorbe)

Anonym: The Apes Dance at the Temple
Anonym: The Temple Anticke
John Coprario (?): Cupararee or Graysin - Robert Johnson: The Satyrs Masque

Quelle: Handschrift Add. Ms. 10444 (British Library)
Sammlung höfischer Maskentänze, vermutlich um 1624 von Sir Nicholas Le Strange zusammengestellt

Seien Sie herzlich willkommen zur rallentando-Ausgabe vom 21. Mai. Heute ist der 40. Tag nach dem Ostersonntag, so dass wir uns am Auffahrtstag des Jahres 2020 befinden.

In der neutestamentlichen Apostelgeschichte gibt es im ersten Kapitel einen Bericht von der Himmelfahrt Christi, und diesen kurzen Bericht möchte ich Ihnen am Anfang gern vorlesen. Er erzählt davon, wie die Jünger das Geschehen der Auffahrt erlebt haben:

Apg 1, 9-11
9 (Christus wurde) vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken. 
10 Und während sie ihm unverwandt nachschauten, wie er in den Himmel auffuhr, da standen auf einmal zwei Männer in weissen Kleidern bei ihnen, 
11 die sagten: Ihr Leute aus Galiläa, was steht ihr da und schaut hinauf zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird auf dieselbe Weise wiederkommen, wie ihr ihn in den Himmel habt auffahren sehen.

Das liest sich wie eine Handlungsanweisung an die Jünger: Sie sollten nicht dabei verharren, dem sich entfernenden Christus nachzublicken. Sondern sie sollen ihr Leben wieder aufnehmen, denn es gebe eine «Wiederkunft» Christi in diesem normalen irdischen Leben. Es ist zugleich eine Handlungsanweisung an uns: Wir sollen unser irdisches und alltägliches Leben führen und dabei darauf Acht geben, wie Jesus Christus und sein Lebensprinzip sich darin wiederfinden lasse.

Christian Meldau, und ich haben deshalb beschlossen, für dieses Auffahrtsrallentando ein ganz irdisches und alltägliches Thema auszuwählen. Den Anstoss dazu hat uns Martina Joos gegeben, die gemeinsam mit Lorenzo Abate und Soma Salat-Zakariás drei Musikstücke aufgenommen hat, die vermutlich so oder ähnlich auf Maskenbällen oder bei Maskenspielen der späten Renaissance-Zeit erklungen sind.

I

Videokonferenzen per Skype, per Zoom oder mit einem anderen Programm sind im Moment sehr im Trend. Man sieht die Teilnehmer am Bildschirm und kann nahezu verzögerungsfrei mit ihnen sprechen. So als wären sie im selben Raum.
Und doch ist mit diesem wunderbaren Instrument niemand so recht zufrieden. Die Konferenzen dauern länger als normale Sitzungen, man hat das Gefühl, die Kommunikation sei indirekt und unvollkommen. Und viele Leute sagen, dass es viel anstrengender sei, auf diese Weise miteinander zu sprechen.
Ich vermute, dass das viele Gründe hat, der wichtigste aber ist wohl, dass man das Gesicht der Gesprächspartner nicht ganz scharf erkennen kann und dass es manchmal leicht verzögert auf dem Bildschirm erscheint.

II

Das Gesicht des Anderen sehen zu können, ist für uns tatsächlich sehr wichtig. Denn auf dem Gesicht zeichnet sich ab, was ein Mensch denkt und fühlt, wie er einem anderen Menschen gegenüber gesonnen ist, was für Absichten er hegt.

Das Gesicht offenbart, was in der Seele eines Menschen vor sich geht. Das ist ganz natürlicherweise so. Natürlich kann man versuchen, sich die Offenlegung des eigenen Gemütszustands über das Gesicht abzutrainieren. Pokerspieler üben das bewusst ein. Bei ihnen geht es gerade darum, die natürliche Offenbarungsfunktion des Gesichts abzuschalten. Sie versuchen völlig regungslos zu erscheinen.
Vermutlich könnte man Poker deshalb ganz gut auch per Videokonferenz spielen. Für jede anderen Kommunikation ist es aber wichtig, am Gesicht des Anderen ablesen zu können, was er meint, wenn er etwas sagt.

III

In der Antike wusste man, dass der Gesichtsausdruck für die Erfassung einer Person wichtig ist. Und weil der Gesichtsausdruck je nach Situation und je nach Stimmung wechselt und uns jeweils eine andere Facette einer Person vor Augen führt, hat man gemeint, das alles sei so, als würden wir ständig eine neue Maske anziehen.
Aus diesem Grund konnte man den Begriff der Maske mit dem der Person gleichsetzen. Personen haben Gesichtsausdrücke, die wechseln – ganz so, wie Schauspieler ihre Masken wechseln.

IV

In der Renaissance und im Barock hat man sich sodann aber auch die andere Seite der Maskenthematik bewusst gemacht: Es ist nämlich möglich, dass wir unseren Gesichtsausdruck bewusst steuern. Dann versuchen wir unseren wahren Gemütszustand zu überspielen. Wir tun dann mit dem Gesicht so, als wäre alles in bester Ordnung, obwohl uns vielleicht gerade eine seelischer oder auch ein körperlicher Schmerz plagt.

Oder: Wir tun dann so, als würden wir unserem Gegenüber freundlich gesinnt sein, dabei empfinden wir sie oder ihn innerlich als unseren ärgsten Feind.
Der Begriff der Maske konnte deshalb auch einen negativen Beiklang erhalten. Wer eine Maske auf seinem Gesicht aufzieht, gibt sein wahres Bewusstsein nicht preis, sondern täuscht seine Umgebung. Die Maske konnte zu dieser Zeit also auch den Geschmack der Täuschung und der Fälschung erhalten.

V

Vermutlich hat sich viel von dieser Bedeutung bis heute gehalten. Es fällt uns ja schwer, uns an die medizinischen Masken zu gewöhnen. Wenn man die Fernsehbilder von Strassenszenen in Asien sieht und mit unserem Alltag vergleicht, fällt einem sofort auf, wie viel leichter es den asiatischen Kulturen fällt, Gesichtsmasken zu akzeptieren. Praktisch jeder in China trägt eine Maske, wenn er das Haus verlässt.

Uns fällt das so schwer – so meine ich –, weil uns das Gesicht der anderen fehlt, wenn sie eine Maske aufhaben. Und das bedeutet eben auch: Wer eine Maske trägt, verbirgt seine Person.
Oder noch schlimmer: Wer eine Maske trägt, steht im Verdacht, die anderen bewusst täuschen zu wollen.
Natürlich denken wir das nicht explizit, wenn uns jemand mit einer Maske begegnet. Aber dieses Verständnis ist wohl doch unausgesprochen so tief in unserer Kultur verankert, dass es unsere Skepsis den Masken gegenüber leitet.

VI

Die Maske hat also zwei Bedeutungsfacetten: Einerseits – wenn sie den unverstellten Gesichtsausdruck meint – ist die Maske gewissermassen das Fenster durch das man in die Seele einer Person schauen kann.
Andererseits kann die Maske ein Mittel zur Täuschung sein – dann nämlich, wenn wir eine Maske aufsetzen, um ein verfälschtes Bild von uns selbst abzugeben.

Die Renaissance jedenfalls war fasziniert von der Thematik... Das drückte sich in den schon erwähnten Maskenbällen und Maskenspielen aus zu denen es natürlich auch die passende Musik gab...

VII

27 Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie. 

So heisst es in der berühmten Stelle des ersten Schöpfungsberichts im ersten Kapitel des biblischen Genesisbuchs.
In den Vereinigten Staaten hat sich kürzlich ein republikanischer Abgeordneter aus Ohio auf diese Stelle bezogen und auf seinem Facebook-Account klar gemacht, dass er nicht bereit sei, eine Maske zu tragen, weil er sonst sein Gesicht verhüllen müsse – denn es sei genau sein Gesicht, das ihn zum Ebenbild Gottes mache. Nino Vitale lehnt die Empfehlungen der amerikanischen Gesundheitsbehörden, eine Maske zu verwenden, deshalb auch ab.

VIII

Medizinisch gesehen ist das natürlich Unsinn. Es macht Sinn, eine Maske zu tragen, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen (jedenfalls gibt es einige Indizien dafür).
Aber was Nino Vitale in seinen Äusserungen geltend macht, ist in gewisser Weise doch nachvollziehbar, wenngleich er doch auch einen Denkfehler macht, wie ich meine. Zunächst aber zu dem, was man, wie ich meine gut nachvollziehen kann: In der Kultur des christlichen Abendlandes ist das Personenverständnis tatsächlich gekoppelt an die Idee, dass wir Ebenbilder Gottes sind. Deshalb ist für uns alle ohne Weiteres klar, dass Menschen eine Würde haben. Der Wert jeder einzelnen Seele ist unendlich gross. Wir sind – gleich wie Gott selbst – heilig und unantastbar.
Diese Idee von der Würde des Menschen schlägt sich nieder in den Verfassungen unserer Staaten, sie findet sich auch wieder in den Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen und sie prägt unser aller Alltagsverständnis.
Diese Idee von der Würde des Menschen ist natürlich auch der Grund dafür, dass wir nun versuchen, Menschenleben zu schützen – selbst dann, wenn es wirtschaftlich sehr teuer ist. Zu Recht, wie ich meine. Das ist das Wesen unserer Kultur.

IX

Nun kann man natürlich fragen, ob Nino Vitale, der US-amerikanische Politiker, Recht hat: Wird die Würde unserer Person vor allem an unserem Gesicht erkennbar? Oder gibt es andere Wege, um sich der Personhaftigkeit des Gegenüber zu versichern?
Natürlich gibt es andere Wege. Und das hat Nivo Vitale wohl übersehen.

Der differenzierteste Ausdruck unseres Wesens als Person findet nämlich gar nicht über den Gesichtsausdruck statt (wie Vitale und Teile der antiken Kultur meinen), sondern über die Sprache. Anhand unserer Sprache wird deutlich, dass wir rationale Wesen sind, die sich über sich selbst Gedanken machen können. Anhand unserer Sprache wird deutlich, dass wir solche Wesen sind, die auf sich selbst schauen können, die ihre Vergangenheit und ihre Zukunft reflektieren können. Wenn wir überlegen, wer wir sind und wer wir sein wollen, geschieht das in sprachlicher Form. Wir können es entweder jemandem Anders erzählen oder uns selbst in Gedanken. Auch in unseren Gedanken verwenden wir unsere Sprache.

Die Sprache ist unser wichtigstes Mittel, um uns als Personen zu präsentieren. Der Gesichtsausdruck ist auch wichtig, aber gemessen an der Sprache ist er wohl zweitrangig. Man kann das ganz leicht daran merken, dass es möglich ist, sich selbst per Telefon auszudrücken. Eine reine Bildkommunikation ohne Sprache – einen Skypechat mit ausgeschaltetem Mikrofon – kann ich mir kaum vorstellen.

X

Insofern hat Nino Vitale einerseits vielleicht ein wenig recht, aber nicht ganz recht. Wir sind Ebenbilder Gottes. Aber das zeigt sich in erster Linie nicht an unserem Gesichtsausdruck, sondern daran, wie und was wir einander sagen. Das Wort ist zentral für das menschliche Dasein.
Wenn man sich das klar macht, fällt es vielleicht auch nicht mehr so schwer, eine Maske zu tragen, obwohl sie das Gesicht verdeckt.

XI

Übrigens ist der Protestantismus ja von Anfang an stolz darauf gewesen, das Wort in das Zentrum seiner Verkündigung und der christlichen Religion überhaupt zu stellen. Wir sind eine Wortreligion.
Der Mensch ist ein sprachbegabtes Wesen, darin liegt seine Würde und sein Personenstatus. Und Gott spricht uns an. Das ist eine Grundidee des Protestantismus. Er spricht uns übrigens nicht auf magische Weise an, sondern durch Worte, irdische Worte. Durch ein Wort, das uns in der Begegnung mit anderen Menschen trifft, vielleicht. Oder durch Geschichten, die uns im Theater oder im Kino begegnen vielleicht. Selbst wenn das Bildgeschichten sind, so sind es vielmehr noch Wortgeschichten. Man versteht den Film erst, wenn man ihn in Worte fassen kann.

Und natürlich ist es möglich, dass Gott uns durch das biblische Wort anspricht. Es kann aus protestantischer Sicht als der Massstab dafür gelten, ob andere Worte wirklich Worte unseres Gottes, des christlichen Gottes sind.

XII

Um etwas vom christlichen Gott zu verstehen, muss man also tatsächlich nicht in den Himmel schauen, da hat die Apostelgeschichte schon ganz recht. Sondern Gott begegnet uns im Alltag, in einem Wort oder in einer Erzählung. Ganz irdisch, im menschlichen Wort kommt er wieder und ist er da.

Amen