Ordnung und Offenbarung

Die Welt hat eine Ordnung. Die Dinge, die wir sehen, stehen nebeneinander und die Erlebnisse, die wir machen, haben eine zeitliche Abfolge, sie geschehen nacheinander. M.a.W: Alles geschieht in Raum und Zeit. Das ist immer so, die Ordnung der Welt gibt es vor. Nichts fällt aus dem Raum heraus und es gibt auch nichts, das der Zeit zeitlichen Abfolge der Geschehnisse entfliehen könnte.
Nehmen wir ein anderes Beispiel aus der Physik, das wir alle im Unterricht ja auch einmal vor Augen geführt bekommen haben: Eine Kugel rollt eine schiefe Bahn hinab und stösst – nachdem sie unten angekommen ist – eine andere an. Die eine Kugel stoppt, die andere wird beschleunigt. Es gibt nach den Gesetzen von Ursache und Wirkung einen elastischen Stoss. Dies wird sich immer und immer wiederholen. Das Experiment wird in hunderttausenden von Klassenzimmern durchgeführt, und es gibt keinen Zweifel daran, dass es immer gleich abläuft. Es wird auch in Zukunft immer gleich ablaufen.

Sie befinden sich in einem Video von rallentando.ch, dem online Andachten- und Gottesdienstprogramm der reformierten Kirchgemeinden Erlenbach und Herrliberg. Und ich heisse Sie herzlich willkommen am heutigen Sonntag, 26. Mai 2020.

Die Welt hat eine Ordnung. Diese Ordnung wird nie durchbrochen. Manchmal wird sie aber doch durchbrochen. Das klingt paradox, ist es aber nicht. Warum es nicht paradox ist und warum wir die Durchbrechung unserer Ordnung als Offenbarung erleben, darum soll es gleich noch gehen...

I

Man muss seine Erfahrungen machen, um etwas von der Welt zu verstehen. So sagt man es oft, und es stimmt. Ein Kind begreift sehr schnell, dass Herdplatten eine Gefahr sein können, wenn es einmal die Erfahrung gemacht hat, sich an einer solchen zu verbrennen.

Unser Erfahrung sagt uns, dass jeden Morgen die Sonne im Osten aufgeht. Die Welt hat eine solche Ordnung: Die Erde dreht sich um sich selbst und diese Bewegung sorgt für den allmorgendlichen Sonnenaufgang.

Man kann sich natürlich fragen, ob wir es für den morgigen Morgen auch schon mit Gewissheit sagen können, dass die Sonne im Osten aufgehen wird.

Wenn unser Wissen über die Ordnung der Welt nur aus der Erfahrung kommen würde, dann können wir es eigentlich nicht mit Gewissheit sagen. Denn dann müssten wir zunächst erst die Erfahrung des Sonnenaufgangs machen. Erst danach könnten wir dann sagen: Heute morgen ist die Sonne abermals im Osten aufgegangen. Wie es morgen früh sein wird, wissen wir nicht genau. Wir müssten erst unsere Erfahrung von morgen, Montag, abwarten.

Der grosse englische Aufklärungsphilosoph David Hume hat sich im 18. Jahrhundert schon mit diesem Problem herumgeschlagen: Wenn es wahr ist, dass all unser Wissen über die Welt aus der Erfahrung kommt, wie können wir dann sicher sein, dass die Ordnung der Welt auch morgen noch gilt. Wie können wir dann im Voraus schon wissen, dass die Sonne morgen erneut im Osten aufgehen wird? Wie können ein Kind heute schon wissen, dass auch morgen die Herdplatte, sofern eingeschaltet, heiss ist?

II

Eine Lösung des Problems ist sodann von einem anderen grossen Philosophen des 18. Jahrhunderts angeboten worden: Immanuel Kant
Kant meinte, dass unser Wissen über die Welt nicht nur aus der Erfahrung stammt. Sondern alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen wird zugleich durch ein paar Gesetzmässigkeiten geordnet, die unser Verstand und unsere Vernunft mitbringen: Unsere Vernunft ordnet die Welt zum Beispiel immer so, dass das Gesetz der Kausalität gilt: Wenn eine Kugel eine andere anstösst, gibt es einen elastischen Stoss. Wenn die Erde heute in Bewegung ist, wird sie es für uns auch morgen noch sein. Die Sonne wird im Osten aufgehen. Man kann das mit Sicherheit sagen, weil unsere Vernunft es ist, die den Dingen ihre Ordnung gibt.

Mehr wissen wir von der Welt nicht. Wir wissen nicht, wie die Welt an sich ist. Wir wissen nur, wie sie für uns ist: Eine durch unseren Verstand, unsere Vernunft und unsere Anschauungsformen geordnete Welt. Deshalb ist auch immer alles im Raum nebeneinander und in der Zeit nacheinander – weil das unsere Art ist, die Dinge anzuschauen.

Das ist der Grund dafür, dass die Welt eine Ordnung hat – für den Menschen. Diese Ordnung wird nie durchbrochen, weil die Gesetze unseres Verstandes und unserer Vernunft immer gleich sind.
Übrigens ist Kant der Auffassung, dass das auf dieser grundlegenden Ebene für jeden Menschen auf der Welt gleichermassen gilt – und zwar über alle Zeiten hinweg. Auch ein Mensch auf den Philippinen oder ein Römer im 2. Jahrhundert nach Christus haben die Dinge auf die gleiche Weise geordnet angeschaut, wie wir heute hier in Europa.
Auf diesem Gebiet gibt es keine Offenbarung. Die Ordnung der Dinge gilt immer und überall.

III

130 Die Offenbarung deiner Worte erleuchtet, Einfältige macht sie verständig.

Das ist ein biblisches Wort, das sich im 119. Psalm findet. Ein langes Psalmgebet ist das in Psalm 119. Der Satz findet sich in Vers 130.

Die Offenbarung deiner Worte erleuchtet, Einfältige macht sie verständig.

Wir haben uns für die Welt noch eine zweite Ordnung zurechtgelegt. Und zwar eine solche, die unser Handeln betrifft. Es geht dabei nicht mehr darum, wie wir die Welt erkennen, sondern welche Regeln wir befolgen, wenn wir mit unseren Mitmenschen und der Welt umgehen. Diese Regeln sind in unseren Sitten und Gebräuchen festgelegt.
Die Sitten und Gebräuche ordnen unser Verhalten. Sie ordnen, wie wir mit den Schwachen der Gesellschaft umgehen, welche Verantwortung die Starken zu übernehmen haben, was in welchem Fall als gerecht gilt, dass wir einem Verletzten selbstverständlich beistehen, wie der barmherzige Samariter, und dass man nicht nur den eigenen Familienmitgliedern, sondern allen Menschen grundsätzlich mit Respekt begegnet, weil sie Ebenbilder Gottes sind. Sie ordnen, dass wir auf die Natur Acht geben und Leben nicht mutwillig zerstören, weil wir sie als Schöpfung begreifen, auch das gehört auch zu den Grundregeln unserer Kultur. Vieles davon hat, sie merken es meinen Ausführungen an, einen Ursprung in den biblischen Schriften.

IV

Unsere Ordnung der Dinge kann bei den Verhaltensregeln aber auch fehlgeleitet werden: Dann, wenn wir vor lauter Stress kein Gefühl mehr für die Bedürfnisse unserer Familie oder unsere Nächsten haben. Oder zum Beispiel dann, wenn wir die Natur oder Menschen oder uns selbst über die Massen ausbeuten oder wenn wir vergessen, was Gerechtigkeit ist.

Das Problem ist nur: Wir bemerken unser Fehlverhalten in diesen Fällen gar nicht mehr. Es ist ja in der Ordnung, die die Gesellschaft, die der Druck auf der Arbeit oder die Anforderungen unseres Umfelds uns abfordern. Wir verhalten uns so, wie man sich eben verhält und das heisst: Wir verhalten uns so, wie die Ordnung, wie die Sitten um uns herum es vorsehen.
Und weil man das Fehlverhalten aus diesen Gründen niemals selbst als Fehlverhalten bemerken kann, wird es einfach immer weiter fortgesetzt.
Das Leben kann so zu einer Irrfahrt werden, aus der man sich selbst nicht befreien kann, einfach, weil uns alles in Ordnung zu sein scheint, obwohl es das nicht ist.

V

Um eine solche Irrfahrt zu durchbrechen, braucht es eine Offenbarung. Und das bedeutet zunächst: Es muss etwas von aussen auf uns zukommen, etwas, das nicht Teil der alten Ordnung ist. Alles mögliche kann das sein: Ein Wort, ein Gespräch, ein Bild, ein Stück Musik. Vielleicht kann es – in bestimmten Fällen - auch ein Virus sein, das die normale Ordnung der Welt für ein paar Wochen oder Monate lahmlegt oder ein ganzes Leben umkrempelt.

Die Offenbarung Deiner Worte erleuchtet. Einfältige macht sie verständig.

Einfältige werden durch eine Offenbarung verständig. Wenn eine Offenbarung von aussen auf uns zukommt, dann können ein Wort, ein Bild, ein Stück Musik oder auch veränderte Umstände uns so treffen, dass etwas mit uns geschieht – so treffen, dass die alte Ordnung, unser altes Ich, in Frage gestellt werden – so treffen, dass eine Umordnung in unserer Ordnung stattfindet.

Einfältige werden dann verständig. Ja, ein Wort, ein Bild, ein Stück Musik, ein Geschehen ist nur dann eine Offenbarung, wenn sie uns so treffen, dass wir etwas über uns selbst verstehen, besser als zuvor.

VI

Ein Wort, ein Bild, ein Stück Musik, sind nur dann eine Offenbarung, wenn sie uns von aussen treffen. Sie können uns so etwas sagen, was in unserer Ordnung zuvor nicht vorkam oder verdeckt war: Dass man sich sich um seine Nächsten kümmern sollte, die man zuvor vergessen hatte, zum Beispiel.

Und Offenbarungen sind nur dann Offenbarungen unseres Gottes, des Vaters Jesu Christi, wenn sie uns ein lebenswertes und lebensdienliches Leben aufscheinen lassen. Es sind nur dann Offenbarungen unseres Gottes, des Vaters Jesu Christi, wenn sie unsere Verfehlungen und Sünden aufdecken und dabei zugleich den Glauben daran wecken, dass all unsere Verfehlungen nun vergeben sind. So wird man frei dazu, sein Leben neu zu gestalten. Es sind nur dann Offenbarungen unseres Gottes, des Vaters Jesu Christi, wenn sie uns die unbedingte Achtung vor dem Nächsten und seinen Bedürfnissen mitbedenken lassen.

VII

Es mag auch Menschen geben, die meinen Offenbarungen zu haben, die alledem zuwider laufen. Diese Offenbarungen münden dann in lebensfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen.
Da muss aber eine klare Linie gezogen werden. Das sind nicht Offenbarungen des Vaters Jesu Christi. Es sind Offenbarungen von Götzen oder um ein Bild dafür zu finden: des Teufels.
Gott bewahre uns davor und er schenke uns mehr Offenbarungen, die uns wahrhaft verständig machen.

Darum bitten wir mit dem Gebet, das auf Jesus Christus, den Sohn unseres Vaters, zurückgeht:

Unser Vater im Himmel!
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.