Drei Stücke zur Wahrheit

I Aristoteles: Der Ball ist rund...

Alle Menschen sind sterblich.
Sokrates ist ein Mensch.
Also ist Sokrates sterblich.

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Heute ist Sonntag, der 26. April, und gern will ich Sie dazu einladen, heute einmal nicht über das Corona-Virus nachzudenken, sondern über die Wahrheit. Was ist Wahrheit? Wie kommt wahre Erkenntnis zu Stande?

Wir machen den Anfang mit Aristoteles, dem antiken Philosophen aus dem 4. Jahrhundert vor Christus.

Das Beispiel zur Sterblichkeit des Sokrates stammt von ihm. Selbstverständlich lassen sich alle anderen Namen und Pronomen ebenfalls einsetzen, der Schluss, der dort gezogen wird, stimmt immer:

Alle Menschen sind sterblich.
Ich bin ein Mensch.
Also bin ich sterblich.

Aristoteles war der erste Denker, der ein ganzes System von derartigen logischen Schlüssen erstellt hat, und er gilt deshalb gemeinhin als der Begründer der Logik überhaupt. Fast alle seine Erkenntnisse wenden wir heute noch wie selbstverständlich an und machen davon im Alltag ständig Gebrauch, meistens ohne dass wir es selbst merken.

Das einfachste Beispiel aus der Vielzahl seiner logischen Regeln ist vielleicht der Satz vom Widerspruch: Von einer Sache kann nicht etwas und sein Gegenteil zugleich behauptet werden. Es ist unmöglich zu sagen, der Schwan ist weiss, und derselbe Schwan ist schwarz zugleich. Nur eine der beiden Aussagen ist wahr: Der Schwan ist weiss.

Nehmen wir ein anderes Beispiel:

Der Ball ist rund.
Der Globus ist rund.
Also ist der Globus ein Ball.

Hier stimmt offenbar irgendetwas nicht. Und Aristoteles hat auch erkannt, woran es liegt. Es gibt bestimmte Regeln dafür, dass der Schluss richtig schliesst und zu einer wahren Folgerung kommt. In unserem Globus-Ball-Beispiel ist eine Regel dieser Regeln verletzt worden, so dass der Schluss eine unwahre Aussage erzeugt.

Natürlich ist es Aristoteles bei der Erstellung seines Regelwerks darum gegangen, wahre Aussagen über die Welt machen zu können. Wenn man die Logik mit der Beobachtung der Natur kombiniert, lässt sich erschliessen, wie die Welt in Wahrheit ist.

Aristoteles geht dabei – und das ist entscheidend - davon aus, dass es eine Welt gibt, die so und so ist, und wir können ihr durch Beobachtung und logische Schlüsse auf die Schliche kommen. Er gilt deshalb als der erste sogenannten Korrespondenztheoretiker der Wahrheit: Eine Aussage ist dann wahr, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder korrespondiert.

Wenn man so will hat Aristoteles auch so etwas wie eine Lehre von Gott entwickelt. Bei ihm erhält der Ewige allerdings einen anderen Namen und heisst «Unbewegter Beweger». Entscheidend ist, wie er darauf kommt, dass es diesen ersten und «Unbewegten Beweger» geben müsse. Er beginnt bei der Beobachtung der Welt und sieht, dass alles in der Welt sich ständig verändert, es ist also alles immer in Bewegung. Auf der Suche nach der Ursache für die Bewegung der Welt macht Aristoteles einen ersten Halt beim Sternenhimmel. Dieser sei offenkundig in Bewegung und kann – so stellt er es sich vor – als Ursache für die Bewegung in der Welt gelten. Dann allerdings bleibt die Frage, wie es dazu kommt, dass der Sternenhimmel in Bewegung ist. Es muss auch dafür eine Ursache geben. Damit man nicht immer weiter zurückfragen muss, muss unsere Vernunft logischerweise auf einen Beweger schliessen, der selbst nicht bewegt wird. Genau dies ist der «Unbewegter Beweger»: Ein Prinzip, das den Sternenhimmel und die Welt in Bewegung versetzt und in Bewegung hält.
Wenn man so will: ein lebendiger Gott!
Man kann ihn sich erschliessen, indem man zunächst die Welt beobachtet und sodann unter Zuhilfenahme der Logik versucht, sich die Vorgänge darin zu erklären.

Klavierimprovisation

II Bach: Göttliche Musik

Gerade eben habe ich schon erwähnt, dass Aristoteles meint, die Welt selbst habe eine bestimmte Struktur, der man mit Hilfe von Beobachtung und Logik auf die Schliche kommen könne.

Diese Idee, dass wir die Wirklichkeit, wie sie ist, in Wahrheit abbilden können, hält sich über sehr weite Strecken unserer Geschichte. Sie hallt nach bei Thomas von Aquin, dem vielleicht grössten Denker des Mittelalters (im 13. Jahrhundert also). Sie findet sich aber auch an ganz anderen Orten wieder: Nämlich in der Musik des Johann Sebastian Bach (im 18. Jahrhundert). Bach entwickelt schon sehr früh einen eigenen Stil beim Komponieren. Und das erklärte Ziel seines Kompositionsstils ist es, «wahre Musik» hervorzubringen, solche also, die die Ordnung der Welt abbildet. Diese Ordnung der Welt ist für ihn von göttlicher Abkunft. Seine Musik soll also der göttlichen Ordnung der Welt entsprechen.

Es ist – man muss das begreifen – für Bach sogar noch mehr: Seine Musik soll nicht nur Abbild dieser Ordnung sein. Sondern sie ist dann wahre Musik, wenn sie selbst ein Teil dieser Ordnung wird. Bachs Musik ist ihrem Anspruch nach also nicht nur ein Symbol der göttlichen Ordnung, sondern sie ist Musik, wie diese Ordnung sie vorsieht. Und es wird darüber hinaus beim Hören der Musik nicht nur die Ordnung der Welt hörbar, sondern es ist zugleich auch möglich, sich beim Hören an den Schöpfer dieser Ordnung anzunähern.
Hören Sie selbst: Hyun Jeong Kim (Oboe), Martina Küng (Gesang) und Christian Meldau an der Orgel haben das quia respexit aus Johann Sebastian Bachs Magnificat für uns eingespielt. Sie werden sehen, dass das eine spezielle Produktion ist. Ein Teil davon ist in Herrliberg, ein anderer in Rom aufgenommen worden.

J. S. Bach, Quia respexit aus dem Magnificat BWV 243

III Spätmoderne Gegenwart

Heute sind wir nicht mehr der Auffassung, dass es so etwas wie wahre Musik geben würde. Sondern es ist uns völlig klar, dass die einen Rap lieber haben, andere Pop und wieder andere eben Bach oder Benjamin Britten.
Die Dinge haben sich relativiert. Es kommt immer auf den Blickwinkel an. Es scheint jedenfalls in gewisser Hinsicht auch unterschiedliche Auffassungen von der Wahrheit zu geben, was sich beispielsweise an der in den USA ablaufenden Debatte um wahre Nachrichten und Fake-News ablesen lässt. Ein Farmer in West Virginia schaut unter Umständen mit ganz anderen Augen und Wertvorstellungen auf die Welt als ein Kunsthändler in New York City.
Die Dinge sind relativ geworden. In vielen Fragen gibt es nicht mehr nur eine Wahrheit, sondern ganz viele verschiedene.

Für Aristoteles und Bach war es noch selbstverständlich, dass sie beim Blick in die Welt oder beim Komponieren von Musik auch einen Ausblick auf die göttliche Ordnung der Dinge oder auf Gott selbst (den unbewegten Beweger) gemacht haben. Ja, das war für sie sogar unumgänglich so: Wer die Welt mit wachen Augen anschaut, entdeckt an ihr auch den Grund der Welt: Gott den Schöpfer.

Auch das ist heute nicht mehr selbstverständlich. Die einen sehen in der Welt nichts als Materie, die sich nach den Gesetzen der Naturwissenschaften richtet. Die anderen sehen in der Erde nichts als einen winzigen und unbedeutenden Planeten in einem riesigen All. Manche sehen in dem Leben auf diesem Planeten nichts als einen Zufall, die anderen erkennen darin einen Plan Gottes.
Es ist, so meine ich, sogar so, dass all diese Sichtweisen auf die Welt von ein und dergleichen Person eingenommen werden können. Es kommt halt darauf an, wie man die Welt gerade anschaut. Man kann am Vormittag rein naturwissenschaftlich auf die Welt schauen und am Nachmittag eine religiöse Perspektive auf dieselbe Welt einnehmen.

Und natürlich bleibt auch heute die Möglichkeit ganz unbenommen, dass man an der Welt einen Plan erkennen kann, hinter dem ein Schöpfer – unser Gott – steht.
Man muss nicht so auf die Welt schauen, aber man kann es tun. Der Apostel Paulus hat es in der Antike auch schon getan. Davon zeugt eine Stelle aus dem Römerbrief, die ich Ihnen zum Abschluss gern noch lesen möchte. Dort heisst es im ersten Kapitel in Vers 19 und 20 über uns Menschen:

19 Sie hätten ja vor Augen, was von Gott erkannt werden kann; Gott selbst hat es ihnen vor Augen geführt. 
20 Denn was von ihm unsichtbar ist, seine unvergängliche Kraft und Gottheit, wird seit der Erschaffung der Welt mit der Vernunft an seinen Werken wahrgenommen...
Amen

Ich möchte Sie gern dazu einladen, das Unser Vater zu sprechen und will schliesslich noch um den Segen des Allmächtigen für uns alle bitten:
Unser Vater im Himmel!
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.

Segen:
Gott segne uns und behüte uns, er lasse leuchten sein Angesicht über uns und sei uns gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf uns und schenke uns seinen Frieden.
Amen

J.S. Bach, Fuge in e-moll BWV 548