Bleibt alles anders?

I

Das Wort «Stress» scheint wie weggeblasen. Vor dem Lock-Down habe ich es jeden Tag mindestens 10x gehört – von Menschen aller Altersstufen. Selbst Schüler und Pensionierte haben das Leben als stressig empfunden. Von denen die morgens aufstehen, um ihrer Arbeit nachzugehen und am Abend heimkommen, um sodann die privaten Dinge, die erledigt sein wollen, ganz zu schweigen. Alle waren immer im Stress.
Jetzt redet niemand mehr davon.

Die Dankbarkeit dagegen hat spürbar zugenommen. Die Leute sind nun dankbar für ihre Gesundheit, für den fast schon unheimlich schönen Frühling, vor allem aber für diejenigen, denen wir unsere Versorgung und unser Gesundheitssystem verdanken: Den Menschen in den Spitälern, denen, die sich im medizinischen Bereich nun bis an die Grenze ihrer Kraft für andere einsetzen. Den Leuten auch, die im Supermarkt die Regale einräumen, die dort an der Kasse arbeiten. Denen, die die Lebensmittel und die Dinge, die wir brauchen, über weite Strecken transportieren.

... herzlich willkommen auf Rallentando.ch, dem Online-Andachten- und Gottesdienstprogramm der reformierten Kirchgemeinden Herrliberg und Erlenbach. Gleich geht es weiter mit diesen Themen rund um den Stress und die Dankbarkeit, zunächst aber ein Stück Musik von ...

II

Die Leute sind also dankbarer geworden. Und noch etwas hört man dieser Tage recht häufig. Die Leute äussern den Wunsch, dass nach der Krise sich etwas ändern möge. Etwas solle aus diesen Tagen in den Alltag danach hinübergetragen werden.
Ganz selten nur wird in den Gesprächen, in denen dieser Wunsch geäussert wird, auch konkretisiert, was genau denn später anders werden solle.
Aber ich vermute, dass die Abwesenheit des Stresses und die neue Anwesenheit der Dankbarkeit dabei eine recht grosse Rolle spielen.

III

Ist es realistisch, dass uns das gelingen wird? Lassen Sie uns einmal eine kleine Zeitreise unternehmen und uns ein oder zwei Jahre vorausblicken: in eine Zeit jedenfalls, in der wir das Virus und die Verlangsamung der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens hinter uns haben. Nach welchem Gesetz wird das wirtschaftliche Leben dann ablaufen?

Es wird – so denke ich – sein wie immer. Um sich klar zu machen, was das bedeutet, ist ein Blick auf einen berühmten Satz von Adam Smith aus dem 18. Jahrhundert hilfreich. Er stammt aus seinem epochemachenden Werk «The Wealth of Nations» (Der Wohlstand der Nationen) und beschreibt ein ganz einfaches Gesetz, nach dem wir uns in der Wirtschaftswelt alle richten, wie Smith meint. Und vermutlich hat er Recht:

„(N)icht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil“ (A. Smith: Wohlstand der Nationen, 1776, 17).

Das ist das Geheimnis des modernen Wirtschaftslebens: Es lebt davon, dass jeder seinen eigenen Vorteil sucht. Erst dadurch erreichen wir aufs Ganze gesehen einen immer grösseren Wohlstand: Denn nur so kommt es dazu, dass wir uns gegenseitig als Konkurrenten wahrnehmen, die darum bemüht sind, sich auf dem Markt (dem Arbeitsmarkt ja auch) durchzusetzen. Man muss dazu besser und produktiver sein als die Anderen und das spornt alle dazu an, das Beste zu geben und immer auf der Suche danach zu sein, wie man sich gegen die anderen behaupten oder gar durchsetzen kann. Nur so wird das erreicht, was wir alle so sehr schätzen: unser Wohlstand, unsere Möglichkeiten zum Konsum, unsere Möglichkeiten dazu, Ferien zu machen, unsere Pension mit 65, unser Gesundheitssystem auf dem hohen Niveau der Schweiz und viele weitere mehr.

IV

Ich wage den Ausblick, dass wir alle darauf nicht verzichten wollen. Und das bedeutet ganz klar: Wenn die Krise vorbei ist oder auch dann schon, wenn wir die derzeitigen Massnahmen zu lockern beginnen, wird das Wort «Stress» wieder zurückkehren.
Denn der Stress ist die unweigerliche Begleiterscheinung des durch hohe Produktivität erkauften Wohlstands. In dieser Hinsicht wird sich also vermutlich nicht viel ändern.

V

Vielleicht ist es anders bei der Dankbarkeit. Wem können und müssen wir eigentlich dankbar sein? Dem Bäcker, den Adam Smith beschreibt, ja eigentlich nicht. Denn wir verdanken unser Brot nicht seiner Grosszügigkeit, sondern seinem Eigeninteresse.
Ist es mit den Ärzten und den Krankenschwestern, mit den Pflegern auf den Stationen unserer Spitäler und mit den Menschen, die in den Supermärkten eigentlich anders? Wenn man Adam Smith folgen wollte, müsste man sagen: Auch sie verfolgen bei der Ausübung ihres Berufs ja lediglich ihre Eigeninteressen: Sie verdienen so ihren Lohn.

VI

Man kann es so sehen, aber man muss doch eine gewisse Hartherzigkeit an den Tag legen, wenn man den Blick darauf beschränkt: Denn die Menschen, die nun in den Spitälern und in den Supermärkten und in den Apotheken und in den Arztpraxen arbeiten, haben natürlich Ängste durchzustehen und gehen immer wieder über die Grenze ihrer Kraft hinaus.
Sie sind zum Teil mit existentiell sehr herausfordernden Situationen konfrontiert, die jedem Menschen das Fürchten lehren würden. Sie bleiben dennoch an ihrem Arbeitsplatz. Wir können ihnen für das, was sie für die Gesellschaft leisten – für uns alle also – wirklich dankbar sein.
Und die Menschen, das zeigen die Reaktionen ja, sind tatsächlich auch sehr dankbar dafür.

VII

Genauso wie die Menschen – ich habe es erwähnt – für vieles weitere auch dankbar sind. Für ihre Gesundheit und für die Gesundheit derjenigen Menschen, die ihnen am Herzen liegen. Für ganz kleine Dinge auch: Für ihren Garten, die Blüten an den Bäumen und die Sonne am Himmel. Und insgesamt auch ganz elementar für das Leben, das wir haben.

VIII

Diese Haltung der Dankbarkeit, die wir nun alle entwickeln, erscheint uns – so meine ich – deshalb als so sinnvoll, weil darin eine Erkenntnis liegt, die in der Hektik unseres sonstigen Alltags verdrängt wird oder in Vergessenheit gerät: Es ist eine Erkenntnis über uns selbst: Die Erkenntnis, dass wir Angewiesene sind. Die Erkenntnis, dass wir abhängig sind, die Erkenntnis, dass das Meiste an unserem und in unserem Leben eben nicht gemacht ist, sondern ein Geschenk ist. Diese Art von Dankbarkeit macht glücklich, weil sie uns Menschen zugleich erkennen lässt, wie wunderbar dieses Geschenk unseres Daseins ist. Und diese Einsicht macht zugleich auch angenehm bei den Menschen. Denn wer erkennt, wie sehr sein Leben verdankt ist, wird auch alle seine Leistungen relativieren. Echte Dankbarkeit macht bescheiden.

IX

Es könnte sein, dass es uns gelingt, diese Art von Dankbarkeit hinüber zu retten auch in die Zeit nach dem Virus. Ich glaube aber, dass das nur gelingen kann, wenn wir den Dank einüben.
Wie macht man das? Indem man innehält und über sein Leben nachdenkt. Man kann das zum Beispiel ritualisieren. Es gibt Menschen, die das machen, indem sie jeden Abend ein Gebet sprechen. Es gibt Menschen, die das machen, indem sie jeden Morgen das gleiche Stück Musik hören oder spielen, in dem solcher Dank zum Ausdruck kommt. Es gibt viele Möglichkeiten, der Dankbarkeit im eigenen Leben einen Platz einzuräumen. Eine wäre es zum Beispiel, sich regelmässig der Bibel zuzuwenden.
In den Texten der Heiligen Schrift kommt solche Dankbarkeit nämlich in aller Regelmässigkeit zum Ausdruck.
Gern will ich Ihnen zum Abschluss eine Kostprobe davon geben:

14 Ich danke Dir dafür, dass ich so herrlich, so wunderbar geschaffen bin; wunderbar sind deine Werke, meine Seele weiss dies wohl.

Psalm 139, Vers 14