Karfreitag 2020

Markus 15

Und sie führen ihn hinaus, um ihn zu kreuzigen. 21 Und sie zwingen einen, der gerade vorbeigeht, Simon aus Kyrene, der vom Feld kommt, den Vater des Alexander und des Rufus, ihm das Kreuz zu tragen. 22 Und sie bringen ihn an den Ort Golgota, das heisst ‹Schädelstätte›. 23 Und sie gaben ihm Wein, der mit Myrrhe gewürzt war; er aber nahm ihn nicht. 24 Und sie kreuzigen ihn und teilen seine Kleider unter sich, indem sie das Los darüber werfen, wer sich was nehmen dürfe. 25 Es war aber die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten. 26 Und die Inschrift, die seine Schuld angab, lautete: König der Juden. 27 Und mit ihm kreuzigen sie zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken. 28 

29 Und die vorübergingen, verwünschten ihn, schüttelten den Kopf und sagten: Ha, der du den Tempel niederreisst und in drei Tagen aufbaust, 30 rette dich selbst und steig herab vom Kreuz! 31 Ebenso spotteten die Hohen Priester untereinander mit den Schriftgelehrten und sagten: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. 32 Der Messias, der König Israels, steige jetzt vom Kreuz herab, damit wir sehen und glauben. Und die mit ihm gekreuzigt waren, verhöhnten ihn.

33 Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 34 Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloi, eloi, lema sabachtani!, das heisst: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! 

 

Am heutigen Karfreitag erinnern wir uns an die Kreuzigung Jesu. Ich heisse Sie willkommen auf rallentando.ch, einem Online-Andachten- und Gottesdienstprogramm der reformierten Kirchgemeinden Erlenbach und Herrliberg.

Jesus wird gekreuzigt, das Markusevangelium erzählt fast atemlos davon, die Ereignisse gehen schnell voran und münden sodann in diese eigentümlichen Worte, die der Gekreuzigte spricht, bevor er stirbt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.

Gern möchte ich mich diesem Gebet Jesu gleich noch zuwenden. Es passt zu unserer Situation, wie ich meine. Nicht nur zur Corona-Krise, in der wir alle ja ganz aktuell stecken. Sondern zu unserer Situation als Menschen in der Spätmoderne überhaupt.

Vor dem ersten Stück Musik will ich gern erwähnen, dass es von Rebekka Bräm und Editha Lambert eingespielt worden ist. Es ist der erste Satz aus Pergolesis Stabat Mater und zeigt, wie man zu zweit ein phantastisches Stück Musik in Corona-Zeiten auf phantastische Weise gemeinsam singen kann.

Von Christian Meldau kommt ein weiteres Stück Musik, ein von ihm selbst komponiertes Lied, das am Ende dieses Videos zu hören sein wird und das ebenfalls den Schmerz über die Kreuzigung Jesu zum Ausdruck bringt.

Lassen Sie mich schliesslich erwähnen, dass es im Verlauf des Videos die Sprache auf ein Bild von Edward Hopper kommt. Aus vertragsrechtlichen Gründen dürfen wir das Bild selbst nach einer Ablauffrist nicht mehr zeigen. Wie blenden aber einen link ein, unter dem sie es auf der Webseite des Museum of Modern Art finden.
Am Ostersonntag wird mein Kollege Andreas Cabalzar ebenfalls mit einem Bild arbeiten, so dass diese beiden Osterausgaben von rallentando miteinander verklammert sind.

 

 

I

Wir leben heute - in der Moderne - in grossartigen Zeiten. So meinen wir es. Jedenfalls haben wir, verglichen mit dem mittelalterlichen Mensch, auf fast allen Gebieten Fortschritte gemacht: Wir reisen zum Beispiel mehr und vor allem auch viel weiter als alle Menschen je zuvor. Eine Reise über den Atlantik kostet uns heute sechs Stunden. Christoph Kolumbus hat Ende des 15. Jahrhunderts dafür noch etwas mehr als zwei Monate gebraucht. Wir fahren in wenigen Stunden für ein Wochenende ins Engadin. Vor 200 oder 300 Jahren noch wäre das undenkbar gewesen. Da hat man solche Reisen gar nicht unternommen oder nur, wenn sie unbedingt notwendig waren.
Wir haben unsere Reichweite massiv ausgeweitet.

II

Auf der Strecke bleibt allerdings häufig genau dasjenige Erlebnis, das wir auf diesen Reisen eigentlich suchen: Wir suchen beim Reisen ja ein besonderes Erlebnis, durch das wir existentiell angerührt werden, ein Erlebnis, in dem die Welt, die wir bereisen uns so anspricht, dass wir verzaubert oder verwandelt werden. Ein Erlebnis mit der Welt, in der sie uns etwas zu sagen hat, das wir zu Hause nicht erfahren können.

Um das zu erleben, müsste man Zeit mitbringen und Musse, sich auf die Welt, die wir bereisen, einzulassen. Vielleicht ginge es besser, wenn die Reise über den Atlantik wieder zwei Monate in Anspruch nehmen würde und nur einmal im Leben unternommen werden würde.

Aber das ist in der Regel nicht die Antwort des modernen Menschen auf seine Reise-Enttäuschungen. Er entschleunigt sein Verhalten nicht, sondern sucht nach noch mehr Reichweite und versucht das, was er sucht, zu finden, indem er sein Verhalten weiter ausdehnt: Wenn es mir nicht gelungen ist, ein derart besonderes Erlebnis in New York zu haben, dann kann ich es ja einmal in Singapur versuchen oder in Barcelona.

III

Diese Art der Beschleunigung und der Ausweitung unserer Möglichkeiten findet nun auf allen Feldern unseres Lebens statt. Wir kommunizieren mehr, aber wir haben kaum noch Gespräche, die das Herz anrühren. Statt den vielzitierten Brief an die Geliebten zu schreiben, tippen wir noch mehr WhatsApp- und Twitter-Nachrichten als zuvor schon. Sie rauschen durch unseren Alltag. Keine dieser Nachrichten trifft unser Herz.

Wir erarbeiten uns durch technischen Fortschritt, durch Steigerung der Produktivität und durch immer umfassendere Beherrschung der Natur immer mehr Möglichkeiten auf allen Feldern unseres Lebens und stehen dabei - normalerweise, wenn das Leben nicht durch einen Virus gebremst ist - ständig unter Stress.

Wir haben zugleich eine enorme Sehnsucht danach, aus dem Hamsterrad auszusteigen und suchen irgendetwas. Ja, was eigentlich?

Ich denke, wir suchen ein Erlebnis, in dem wir uns durch die Welt anrühren lassen. Oder noch präziser: Wir suchen ein Erlebnis, in dem die Welt uns anrührt.
Ein Erlebnis, durch das endlich das graue Rauschen des Alltags, der unendlich gleiche Strom von Nachrichten und gesteigerter Produktivität unterbrochen wird, so dass wir das Gefühl haben, die Welt habe uns wirklich etwas zu sagen - auf eine Weise etwas zu sagen, dass wir uns in ihr aufgehoben und wohl fühlen, so dass wir etwas an ihr entdecken, das uns den Sinn unseres Lebens aufschliesst. Etwas, das unsere Sinne und unseren Geist erneuert und uns erlöst von dem unendlichen Stumpfsinn, aus dem unser Alltag ja häufig besteht.

IV

Im Prinzip böte das rallentando der Welt, das dem Corona-Virus geschuldet ist, eine Möglichkeit dazu, solche Erlebnisse der Erlösung bewusst zu suchen und zu machen. Vielleicht gelingt es einigen von uns auch.

Aber vermutlich fällt es vielen doch schwer - und zwar aus zwei Gründen: Erstens, weil wir es nicht geübt sind, uns derart intensiv auf die Welt einzulassen. Vielmehr sehnen sich nun viele von uns so schnell wie möglich zurück zu den normalen Zeiten. Auch mir selbst geht es immer wieder so.
Das ist der eine Grund. Der zweite ist Folgender: Die Corona-Krise raubt uns die Möglichkeit, näheren Kontakt mit Menschen zu haben. Und vermutlich ist es wirklich so, dass man die so sehnlich herbeigewünschten Erlebnisse mit der Welt eigentlich nur haben kann, wenn man sie zugleich entweder mit einem Menschen oder an einem Menschen macht oder sie zumindest mit einem Menschen teilen kann.

Wer einmal den Grand Canyon gesehen hat und Tränen in den Augen hatte, weil ihn die Schönheit dieser Landschaft überwältigte, der muss das, was er da spürte, teilen können. Sonst ist das Erlebnis nur halb so viel Wert. Oder vielleicht kann es sonst gar nicht zu dem so besonderen Eindruck werden, den man sucht.

Die Corona-Krise zwingt uns aber dazu, unsere Kontakte zu anderen zu minimieren. Und deshalb fällt es uns so schwer, gerade jetzt die Erlösung von dem Druck des modernen Menschen zu spüren. Es gibt zu wenig Möglichkeiten, seinen Seelenzustand einem anderen mitzuteilen. Es gibt zu wenig Möglichkeiten, durch den Austausch mit einem anderen ein Erlebnis zu machen, das die Seele wirklich in Bewegung versetzt.

V

Um das zu erfahren, was wir alle suchen - lassen Sie es mich einmal das wahre Leben nennen - ist der Mensch also darauf angewiesen, im Austausch mit Anderen zu sein. Das Leben macht keinen Sinn und fühlt sich nicht richtig an, wenn wir nicht angerührt werden durch unsere Freunde, durch unsere Partner, durch unsere Kinder oder Eltern - so angerührt, dass uns die Eingeweide zittern. Es macht keinen Sinn, wenn wir ihnen nicht erzählen können, was unsere Seele in Bewegung setzt und uns beschäftigt.

VI

Für das wahre Leben wäre also wahrer Kontakt mit anderen Menschen nötig. Die Moderne hat dazu geführt, dass auch unsere Kontakte mechanisiert werden und unter den Gesichtspunkt der Steigerung von Produktivität geraten. Und deshalb sind wir im Prinzip alle der Gefahr ausgesetzt, zu vereinsamen.

Niemand hat das besser in eine Bildform gebracht als der grosse und wohl bekannteste amerikanische Maler des 20. Jahrhunderts: Edward Hopper. Lassen Sie uns ein Bild anschauen, das er 1940 auf die Leinwand gebracht hat: Es trägt den Titel: Gas.

Sie finden es unter folgendem link auf der Webseite des MoMA (Museum of Modern Art):

https://www.moma.org/collection/works/80000

Abgebildet ist ein Mann - vermutlich der Tankwart - an einer Tankstelle, die einsam irgendwo in der Landschaft Nordamerikas liegt. Nicht bloss die Tankstelle ist vereinsamt, der einzige Mensch, der auf dem Bild zu sehen ist, ist es auch. Sein Gesprächspartner ist nicht ein Mensch, sondern eine der Tanksäulen, die ein übergrosses Format aufweisen. Sie stehen symbolisch für die Technisierung unserer Lebenswelt. Der Mensch ist nicht mehr bezogen auf das Herz und die Seele eines anderen Menschen, sondern auf technische Prozesse und auf Steigerung der Reichweite, für die das Auto und das Benzin und die Tanksäule stehen.
Das macht ihn einsam. Es ist auf dem Bild kein weiterer echter Mensch zu sehen. Und man spürt, dass da auch kein anderer ist. Selbst wenn einer anhalten würde, um seinen Tank zu füllen, bliebe er ein Kunde. Er würde nie und nimmer zu einem Menschen werden, durch den die Seele des Tankwarts angerührt wird oder der sich durch ihn anrühren liesse.
Das ist das Schicksal des modernen Menschen: Einsamkeit in einer von ihm selbst geschaffenen Welt.

VII

Hoppers Bild zeigt etwas: Einen Mann an einer Tankstelle in den USA. Es zeigt aber zugleich noch viel mehr, nämlich auch Dinge, die auf der Leinwand selbst nicht erscheinen.
Es zeigt die Sehnsucht des Tankwarts (der wir alle sein könnten) nach einem anderen Menschen, die Sehnsucht danach, dass das Wunder geschehen möge, wir würden im Alltag auf einen anderen Menschen treffen, aber so, dass er oder sie uns wahrhaft anrühren. So, dass Beziehung wirklich gelingt und nicht bloss geschäftsmässig abgewickelt wird.

VIII

Unser Gott ist ein Du. Er ist kein abstraktes Prinzip, keine unpersönliche Macht, sondern er lässt sich ansprechen als Vater. Es ist genauso sinnvoll, Gott als Mutter anzusprechen. Entscheidend ist, dass unser Gott eine Person ist. Man kann zu ihm (oder zu ihr) beten, und es ist sinnvoll, dass wir unseren Kindern beibringen, mit ihm zu sprechen.

In jedem Gebet spricht sich die Seele eines Menschen aus.

Wer betet, glaubt daran, dass es sich lohnt, etwas von seinem Innersten preiszugeben. Wer betet sucht eine Beziehung, in der genau das geschieht, was in unserem Alltag allzu oft vermisst wird: echte Beziehung. Wer betet, hofft darauf, dass ihm jemand zuhören wird und auch antworten wird. Nicht nur ein Gott, der irgendwie abstrakt ist, sondern ein echter Mensch in der Geschichte (das ist der Grund dafür, dass Gott im Christentum Mensch wird).
Wer betet hat selbst in der grössten Not den Glauben daran, dass es eine Beziehung zur Welt und zu einem anderen geben könnte, in der der Sinn dieser Welt und des eigenen Lebens aufscheint, nicht aufgegeben.

IX

Jesus Christus ist einsam am Kreuz. Seine Jünger haben ihn verraten. Es gibt niemanden mehr in seiner Nähe. Sein Tod steht unmittelbar bevor. Und nun betet dieser Mensch. Und er spricht einen eigentümlichen Satz, der so paradox ist wie ein Satz nur sein kann: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!

Es ist ein Gebet in höchster Not. Es ist das Gebet eines Menschen, der radikal einsam ist. Eines Menschen, der nicht einmal mehr daran glaubt, dass das Gebet selbst etwas auszurichten vermag gegen seine Einsamkeit. Denn er fühlt sich verlassen von dem, den er anspricht. Und doch spricht er ihn an. Das ist das Paradox. Der betende Jesus spricht seinen Vater an, obwohl er meint, dieser werde ihn nicht hören, weil er ihn verlassen hat. Er spricht trotzdem zu ihm.

X

Das tut nur, wer dennoch glaubt, dass es sich lohnt, seine Seele auszusprechen. Es ist der Glaube daran, dass es sich ereignen kann, was wir alle uns so sehr wünschen: Dass jemand uns hören mag! Nicht nur technisch, sondern wahrhaft zuhören mag.

So betet nur, wer daran glaubt, dass es trotz aller Widrigkeiten möglich ist, wirklich eine Beziehung zur Welt und zum Nächsten zu haben. Eine solche Beziehung, die dem Leben Sinn verleiht. Selbst dann, wenn das alles dem Tode geweiht zu sein scheint.

Man wünscht dem Tankwart auf Hoppers Bild einen solchen Glauben. Wir sind dieser Tankwart. Ein spätmoderner Mensch, der das beten einüben sollte und den Glauben daran, dass wahre Beziehung möglich ist, zur Welt, zu den Menschen um uns herum und damit auch zu Gott.

Ich lade Sie ein zu einem Gebet:

Unser Vater im Himmel!
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.