Palmsonntag 2020

Heute ist Palmsonntag. Der Sonntag also, an dem wir uns erinnern an die Ankunft Jesu in der Stadt Jerusalem, in der ihm sodann ein paar Tage später - an Karfreitag - der Prozess gemacht werden wird.

Ich heisse Sie herzlich willkommen zu einer Sonntagsausgabe auf rallentando.ch, dem Online-Andachten-Portal der reformierten Kirchgemeinden in Erlenbach und Herrliberg.

Jesu zieht also ein in Jerusalem. In den Evangelien wird dieser Einzug nicht bloss nüchtern beschrieben, sondern so, dass bei der Lektüre eine ganze Symbolwelt mit aufgerufen wird:

Die Menschen schneiden Palmzweige ab, und sie breiten diese Zweige vor dem Mann aus, der da in die Stadt kommt. So empfing man sonst nur Könige.
Das ist das eine. Zudem kommt Jesus auf einem Esel in die Stadt geritten. Man muss das richtig verstehen: Der Esel galt zur Zeit Jesu als ein geradezu vornehmes Reittier. Wer auf einem Esel ritt, der konnte für sich beanspruchen, ein edles und intelligentes Tier sein Eigen zu nennen. Und diese Eigenschaften gaben zugleich Auskunft über die Seele dessen, der auf diesem Reittier daherkam.

Ich möchte Ihnen gern einen Abschnitt aus dem 12. Kapitel des Johannesevangeliums lesen, in dem dies alles berichtet wird:

12 Als am Tag darauf die grosse Volksmenge, die zum Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem komme, 
13 nahmen sie die Palmzweige und zogen hinaus, ihn zu empfangen, und riefen:
Hosanna, gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels.
14 Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht:
15 Fürchte dich nicht, Tochter Zion! Siehe, dein König kommt, sitzend auf dem Füllen einer Eselin.

Wie gesagt: Ein grandioser Empfang. Um vollends zu verstehen, wie es dem nach Jerusalem einreitenden Jesus geht, muss man aber noch ein paar Zeilen weiterlesen. Der in der Stadt Angekommene spricht dann nämlich folgenden Satz:

27 »Mir ist jetzt sehr bange. Was soll ich tun? Soll ich sagen: ›Vater, lass diese Stunde an mir vorbeigehen‹? Aber ich bin ja in diese Stunde gekommen, um sie durchzustehen.»

Bei allem Triumph muss Jesus also etwas gewusst haben von dem Prozess, der am Ende der Woche folgte und in dem er zum Tode verurteilt werden sollte.
Der Triumph war also nicht ungetrübt, sondern er war begleitet von Ungewissheit und von Angst um das eigene Leben.

 

I

Der Mensch ist das einzige Wesen auf der Erde, das von sich selbst Abstand nehmen kann. Der Mensch ist deshalb auch das einzige Wesen auf der Erde, das ein Zeitbewusstsein hat. Wir können auf unser Leben schauen und die Gegenwart von unserer Vergangenheit und Zukunft unterscheiden. Das alles kann das Tier nicht. Es lebt immer im Augenblick. Es kennt nur die Gegenwart und geht vollends in ihr auf. Ein Tier denkt über diese Gegenwart auch nicht nach, weil es das gar nicht kann.
Wir Menschen aber erklären uns unsere Gegenwart aus unserer Vergangenheit. Und wir entwerfen eine Zukunft, die zu diesem Bild, das wir uns auf diese Weise von uns machen, passt.

II

Genau so werden ja Lebensläufe entworfen: Wollen wir jemand anderem begreiflich machen, wer wir sind, werden wir ihm unsere Geschichte erzählen: Ich komme von da und da, habe die und die Ausbildung gemacht, habe sodann die und die Umwege genommen. Und als dieser Mensch mit dieser Vorgeschichte stehe ich nun vor Dir.

III

Will man dem anderen noch etwas mehr von sich mitteilen, dann muss man nicht nur von der Vergangenheit sprechen, sondern auch von der Zukunft.
Und wenn wir von dieser Zukunft sprechen, müssen wir auch von den Wünschen und Hoffnungen sprechen, die wir mit dieser Zukunft verbinden, aber auch von Dingen, vor denen wir uns fürchten.

IV

Als Menschen sind wir also recht komplexe Wesen, die gewissermassen immer einen ganz Zeitstrahl von sich selbst mitbedenken. Lassen Sie mich diesen Gedanken noch um einen weiteren anreichern, der insbesondere mit unserer Zukunft zu tun hat:

Die Zukunft können wir planen. Das betrifft die ganz grossen Dinge: Welchen Ausbildungsweg wollen wir wählen? Welchen Partner, welche Partnerin wollen wir heiraten, wo wollen wir uns niederlassen? Wo will ich mich in den nächsten Jahren politisch oder sozial engagieren?

Die Planung unserer Zukunft kann aber auch viel banaler und kleinteiliger geschehen. Genau so geschieht es ständig in unserem Alltag: Später am Nachmittag wollen wir noch einkaufen oder einen Termin beim Coiffeur abmachen. Oder am Abend wollen wir die Enkelkinder für das Wochenende einladen usw.

V

Nun meine ich, dass diese Fähigkeit, dass wir unsere Zukunft in die Hand nehmen können, viel damit zu tun hat, ob wir unser Leben als sinnvoll erfahren: Ja, es ist sogar genau so:
Wenn wir das Gefühl haben, wir könnten die Dinge planen, und wir könnten zudem unsere Pläne auch in die Realität umsetzen, dann erscheint uns das Leben als sinnvoller Vorgang: Die Enkel einladen, einkaufen gehen, einen Coiffeurtermin buchen: Wenn das gelingt, ist der Tag gerettet. Wenn es schief geht oder wenn uns die Fähigkeiten fehlen, unsere Pläne in die Tat umzusetzen, erscheint uns der Tag verloren zu sein. Sinnlos vertane Zeit.
Oder in grösseren Bögen gedacht: Wenn es gelingt, den Beruf zu ergreifen, den man ergreifen wollte, dann erscheint das Leben als gelungen – wenn man sein Leben führen kann, erscheint es als sinnvoll. Sinnverlust droht immer dann, wenn uns die Dinge entgleiten, weil uns die Mittel entgleiten oder weil uns die Kräfte oder die Gesundheit verlässt, die nötig wären, um zu verwirklichen, was wir uns wünschen.

VI

Wir stehen hier an der Schifflände in Herrliberg. Als Kind schon hat es mich fasziniert, wie die Schiffe, die am Horizonte zunächst als ganz kleiner Punkt auftauchen, langsam immer grösser werden, dann scharfe Konturen annehmen und schliesslich ganz detailliert zu erkennen sind, je näher sie uns kommen.

Am Anfang wissen wir noch nicht, wie das Schiff aussehen wird, das am Ende des Vorgangs anlegt: Welche Farbe hat es, wie gross ist es, wie viele Leute wird es mitführen?
Vielleicht mag das ein Bild dafür sein, dass ständig Dinge auf uns zukommen, von denen wir nicht genau wissen, wie sie aussehen.
Die Zukunft unseres Lebens ist nicht allein in unserer Hand. Sie wird nicht allein durch unser Planen und Tun gestaltet, sondern sie hat auch Widerfahrnischarakter. Es kommt etwas auf uns zu, wie ein Schiff, das zunächst bloss schemenhaft am Horizont auftaucht. Und wir wissen noch nicht, wie es am Ende aussehen wird.

VII

In Wahrheit ist es also so, dass unsere Zukunft ein Gemisch ist, ein Kompositum aus den Dingen, die wir gestalten können und denjenigen, die uns widerfahren werden und denen wir also auch ausgesetzt sind.
Das macht die Sache unsicher: Wir wissen nicht genau, was da auf uns zukommt in naher und in ferner Zukunft. Und deshalb liegt in allem, was uns widerfahren wird, auch ein drohender Sinnverlust. Es könnte sein, dass die Dinge uns den Atem rauben werden. Es könnte sein, dass das Coronavirus unser Land mit Härte trifft, es könnte sein, dass es auch mich persönlich trifft. Dann gibt es kaum noch Gestaltungsraum. Dann wäre jedes Bewusstsein davon, dass die Dinge Sinn machen, dahin.

VIII

Mir ist jetzt bange. Diese Worte spricht Jesus, nachdem er so glorios in die Stadt Jerusalem eingeritten ist. Er wusste nicht genau, was nun auf ihn zukommen würde. Und wir alle wissen es nun auch nicht. Und deshalb ist uns nun bange.

Dieses Gefühl wird gewiss verstärkt dadurch, dass wir im Moment nicht viel tun können. Wir sind dazu aufgefordert, still zu halten. Wir sind dazu aufgefordert uns zurückzuziehen und möglichst wenig Pläne zu machen: Kein Theaterbesuch, kein Kino, kein Besuch der Enkel oder der Grosseltern mehr. Kein genüsslicher Einkauf in Zürich auf der Bahnhofstrasse.

In gewisser Weise ist uns ein Teil unserer Zukunft geraubt worden, weil wir weniger gestalten können. Und zugleich ist derjenige Teil unserer Zukunft, der uns widerfahren wird, grösser und bedeutsamer geworden. Die Dinge kommen auf uns zu, und wir wissen nicht, wie sie aussehen werden. Unserem Leben droht ein Sinnverlust.

IX

Der Einzug Jesu nach Jerusalem war glorreich. Unsere Vergangenheit ist es gewiss auch gewesen. Die Schweiz steht gut da, wir sind in unserem Land und im Rest Europas zurecht stolz auf unsere Leistungen. Vielleicht sind sie es ganz persönlich in ihrem Leben auch. Was haben Sie erreicht, was ist gelungen? Vieles davon wird – da bin ich ganz sicher – wunderbar sein und sich gelungen und voller Sinn anfühlen.

Nun aber ist uns bange. Wir wissen nicht genau, wie die nächsten Wochen weitergehen. Wir wissen nicht genau, was auf uns zukommt. Wirtschaftlich nicht, gesundheitlich nicht. Wir wissen auch nicht genau, ob das, was wir für die nächsten Wochen und Monate planen, Sinn macht, weil wir nicht wissen, ob es sich am Ende umsetzen lässt.

Hoffen können wir, aber es ist im Moment doch alles unsicher: Hochzeiten, Konfirmationen, Familienfeste, Gesundheit, Wirtschaftspläne, Arbeitsplätze...

X

Aber ich bin ja in diese Stunde gekommen, um sie durchzustehen. Das ist der letzte Satz aus dem biblischen Text, den ich vorhin gelesen habe. Und er liest sich wie eine Anleitung dazu, wie wir mit dieser Situation fertig werden können.

Eigentlich ist es kein trotziger Satz. Er klingt nicht so, wie die vielen Kampfansagen, die man im Moment vor allem von Regierungschefs zu hören bekommt, die ihr Volk aufmuntern wollen, indem sie an die eigenen Fähigkeiten und an die eigene Durchhaltekraft und Stärke appellieren. Sondern dieser Satz ist viel demütiger.

Er wird in der Gebetshaltung gesprochen. Und das bedeutet: Der Satz richtet sich an denjenigen Gott, von dem Jesus weiss, dass er unsere Geschicke lenkt. Er weiss, dass Gott diejenigen Umstände unserer Zukunft bestimmt, die nicht in unserer Hand liegen. Es ist in gewisser Weise ein Satz, mit dem man zum Ausdruck bringt, dass man bereit ist, diejenigen Dinge anzunehmen, die uns widerfahren werden.
Und es ist zugleich ein Satz, an dem man lernen kann, dass man den Dingen in einer Haltung der Demut einerseits, in einer Haltung der Zuversicht andererseits entgegenschauen kann.

Diese Mischung aus Demut und Zuversicht legt Jesus das gesamte Johannesevangelium hindurch an den Tag: Demut, aber eben keine Resignation, sondern Zuversicht – es schwingt, das will ich sagen, immer schon ein Ausblick auf die Auferstehung mit.

XI

Und deshalb wird hier natürlich auch nicht der Passivität das Wort geredet. Sondern selbstverständlich sollen und werden wir bei aller Ungewissheit, die sich nun wie Mehltau auf unser Bewusstsein legt, das Leben weiter planen und gestalten und wir werden es auch weiter führen. Würden wir diesen Glauben verlieren, würden wir tatsächlich in ein Gefühl der totalen Sinnlosigkeit abgleiten.
Aber an einem Text wie demjenigen aus dem Johannesevangelium kann man eben erlernen, dass wir Menschen in Hinsicht auf unsere Zukunft zuversichtlich nach vorne schauen können.

Eine solche feste Zuversicht in sich zu tragen speist sich übrigens aus Glauben. Das ist mehr als eine vage Hoffnung. Es ist eine grundsätzliche Haltung, die so viel Gewissheit erzeugt, dass man sein Leben darauf gründen kann.
Für die Christenheit ist dies seit jeher gleichbedeutend mit dem Glauben an die Gnade desjenigen Gottes, dem wir unser tägliches Brot verdanken und den wir darum bitten, dass sein Reich komme:

Lassen Sie mich zum Abschluss deshalb noch das Unser Vater sprechen:

Unser Vater im Himmel!
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.