rallentando vom 24. Februar 2021

I

Vor genau einer Woche ist die Fastenzeit vor Ostern angebrochen. Vielleicht verzichten auch Sie auf Schokolade, Alkohol, auf Fernseh- oder Internetkonsum.
Vielleicht ist Ihnen das aber auch zu langweilig und Sie fragen sich, warum die Menschen sich eine solche Askese für 40 Tage ihres Lebens antun.

In der rallentando-Ausgabe vom 24. Februar wollen wir genau dieser Frage nachgehen: Was ist dran am Verzicht, warum fasten Menschen vor Ostern?

Bleiben Sie dran!

II

Lassen Sie uns starten mit einem Blick darauf, wie unser Wille aufgebaut ist. Vom grossen Philosophen Immanuel Kant stammt ein Vorschlag, der wohl heute noch bedenkenswert ist. Er meinte, dass unser Wille immer durch zwei konkurrierende Antriebsklassen beeinflusst wird: Einerseits ist es die Vernunft, die den Willen steuern will, andererseits ein Trieb in uns, der uns Lust und Glück suchen lässt.

Was gemeint ist, wird schnell an einem alltäglichen Beispiel klar: Ein Kind, das vor der Wahl steht, entweder für eine Französisch-Prüfung zu lernen oder mit den Nachbarskindern auf dem Trampolin zu hüpfen, spürt diese beiden Antriebsarten in sich ganz genau: Die Vernunft gegen das, was Lust bereitet und Spass macht. Französich-Vokabeln gegen Trampolin.
Es ist nicht von vornherein klar, wie der Wille des Kindes sich entscheiden wird.

III

Springen wir an dieser Stellen zu einer Erzählung, von der das Neue Testament berichtet und die die Vorlage für unser Fasten vor Ostern ist. Da wird davon berichtet, wie Jesus sich für 40 Tage in die Wüste begibt, um zu fasten. Dort, in der Wüste, wird er allerlei Versuchungen des Teufels ausgesetzt, der ihn auffordert, aus Steinen Brot zu machen, oder der ihm weltliche Macht verspricht, wenn Jesus bereit ist, sich ihm zu unterwerfen.

Diese Stimme des Versuchers will, das ist ganz klar, Macht über den Willen Jesu gewinnen, so wie das Lustprinzip in uns Macht über unseren Willen erzielen will. Von Jesus wird erzählt, dass er den Versuchungen widerstehen konnte.

IV

Beim Fasten geht es darum, zu widerstehen. Es geht darum, die Lust auf Schokolade, auf eine Zigarette oder auf den Konsum einer Netflix-Serie zu bezwingen - mit der Vernunft. Beim Fasten werden wir uns also einer Struktur bewusst, die auch im Alltag für unser Leben eine grosse Rolle spielt. Es geht darum, wie Kant gesagt hätte, der Vernunft in unserem Leben zur Durchsetzung zu verhelfen. Das Fasten steht da lediglich exemplarisch für unser Leben insgesamt.

V

Jesus ist dabei nicht gescheitert, beim Fasten nicht und auch sonst nicht. Sein Leben, wie es im Neuen Testament beschrieben wird, ist ein vernünftiges Ideal-Leben.

Wir dagegen scheitern ständig. Im Alltag und vermutlich viele von uns auch beim Fasten: Irgendwann in diesen 40 Tagen machen wir doch eine kleine Ausnahme und greifen zur Fernbedienung oder gönnen uns ein kleines Stück von der Schokolade.

Ich glaube, dass dieser Moment sehr lehrreich ist. Denn erst dann, wenn wir uns fragen, wie uns das wieder einmal passieren konnte, haben wir auch etwas über unser Leben insgesamt gelernt: Nämlich dies, dass wir nicht nur ständig angefragt sind, sondern auch immer wieder scheitern.
Anders als das Idealleben des Jesus Christus ist unser Leben ein solches, in dem auch viel Unvernunft geschieht. Anders als der Wille Jesu ist unser Wille nicht nur angefochten, sondern auch nachlässig. Im Alltag ist das so, und manchmal eben auch beim Fasten.

VI

Die Fasten- und Passionszeit im Kirchenjahr erzählt ja von den Brüchen in unserem Willen und von der Unvollkommenheit des Menschen insgesamt. Das ist eines der grossen Themen der Menschheit, an das wir uns bis Ostern erinnern. Am Ostersonntag dann erhält diese Erzählung über unser Leben und seine Unvollkommenheiten eine Wende. Aber bis dahin vergehen noch ein paar Wochen.
Zunächst geht es darum zu erkennen, was es heisst, ein Mensch zu sein und was es heisst menschlich zu sein. Es heisst, dass unser Wille ständig angefochten ist und immer wieder auch scheitert. Es hilft nichts, das zu leugnen. Es hilft aber etwas, sich das ab und an auch einzugestehen.

Amen